Festliche Verleihung im Rathaus
Kirsten Boie Ehrenbürgerin von Hamburg!
Die Hamburgische Bürgerschaft hat am 18.12.2019 einstimmig beschlossen, dass Kirsten Boie mit der Ehrenbürgerwürde geehrt werden soll. In ihrer Dankesrede warb sie für die Leseförderung.
Hier die vollständige Rede:
Sehr geehrte Frau Präsidentin der Bürgerschaft, sehr geehrter Herr Erster Bürgermeister, sehr geehrte Ehrenbürger, Senatorinnen, Senatoren und Bürgerschaftsabgeordnete, liebe Gäste,
„Es gibt über dir keinen Herren und unter dir keinen Knecht“ dieser Satz aus dem Hanseatischen Ordelbook, dem Hamburger Stadtrecht von 1270, hat mich in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts als Hamburger Kind zutiefst beeindruckt. Natürlich ist damit vor allem gemeint, dass ein Hamburger Bürger keinem Fürsten untertan ist und er sich daher auch Menschen von Adel nicht unterlegen fühlen muss: Weshalb echte Hanseaten bis heute keine Orden annehmen. Ich allerdings habe den Satz damals als internen Gleichheitsanspruch für alle Hamburger Bürger aufgefasst, was ja vielleicht noch nicht einmal so vollkommen falsch und auf jeden Fall sehr viel schöner ist, und dieser Gedanke gefällt mir auch heute noch gut. Natürlich wissen wir alle, dass eine solche Gleichheit 1270 ebenso wenig Realität war wie heute aber eine Stadt, die schon vor über 700 Jahren mit diesem Anspruch auf Gleichheit angetreten wäre, müsste uns noch immer beeindrucken.
Und die Ehrung heute, die für mich mindestens ebenso überraschend ist wie bestimmt für die meisten von Ihnen das Medienecho nach der Bekanntgabe des Senatsvorschlags hat ja die allgemeine Verblüffung deutlich gemacht bestätigt für mich eben diese Haltung, egal, wie der Satz nun ursprünglich wirklich gemeint war.
Ich freue mich ganz ungeheuerlich. Und über meine persönlich-private Freude hinaus bin ich vor allem aus drei Gründen über die Entscheidung der Bürgerschaft vor einer Stunde(?) glücklich. Die Verleihung der Ehrenbürgerwürde hat seit ihrer Einführung im Jahr 1813 immer widergespiegelt, welchen gesellschaftlichen Gruppen zur jeweiligen Zeit in dieser Stadt Wertschätzung entgegengebracht wurde: Waren es zu Anfang vor allem hochrangige Militärs, kamen dann Politiker, Männer der Wirtschaft, Mäzene, zaghaft mit Johannes Brahms zum ersten Mal ein Vertreter der Kultur und erst 1985 mit Ida Ehre endlich auch eine Frau.
1985! Hatte es vorher keine Frauen gegeben, denen man diese Ehrung hätte zuteilwerden lassen können? Es ist eine Tatsache, dass die Frauen auch der höheren Stände im 19. Jahrhundert unselbständig gehalten wurden und ihnen bis etwa zur vorletzten Jahrhundertwende nicht der Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen offen stand als erste Hamburger Höhere Mädchenschulen wurden erst 1910 das Gymnasium Lerchenfeld und das Helene-Lange-Gymnasium gegründet. Als Reederinnen oder ehrbare Hamburger Kauffrauen waren sie undenkbar; und selbst der Kulturbereich war ihnen bis zur vorletzten Jahrhundertwende so gut wie versperrt. Romane etwa wurden im 19. Jahrhundert zum großen Teil von Frauen gelesen aber welche große Romanautorin aus dieser Zeit fällt Ihnen ein? Mary Anne Evans, die Autorin des bis heute beeindruckenden Romans „Middlemarch“, musste Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem männlichen Pseudonym George Eliot veröffentlichen, zwar in Großbritannien, aber in Deutschland wäre es ja kaum anders gewesen. Ein Leben, für das man mit der Ehrenbürgerwürde hätte geehrt werden können, war für Frauen bis weit ins letzte Jahrhundert kaum möglich.
Und trotzdem gab es sie, auch in Hamburg, die Frauen, denen sie sicher mindestens ebenso zugestanden hätte wie den zu ihrer Zeit geehrten Männern: Amalie Sieveking etwa, im 19. Jahrhundert eine wichtige Wegbereiterin der sozialen Arbeit und der Diakonie, deren Arbeit bis weit ins Ausland bekannt war und dort kopiert wurde, oder Elise Averdieck, im Jahr 1856 Gründerin des Bethesda-Krankenhauses und damals viel gelesene Kinderbuchautorin Sie merken etwas!; oder Lida Gustava Heymann, deren Namen bis heute kaum jemand kennt, eine frühe Kämpferin für die Rechte von Frauen, die diesen Kampf mit ganz handfesten Hilfen wie einem Kinderhort für berufstätige Arbeiterfrauen oder einem Mittagstisch für die Ehefrauen und Kinder von Streikenden begleitete.
Doch, es gab sie, die Frauen, die trotz aller gesellschaftlichen Hürden auch damals schon die Ehrenbürgerwürde verdient hätten, aber eine solche Vorstellung war für Hamburgs Senatoren (natürlich gab es keine Senatorinnen) im 19. und offenbar ja bis zum Ende des zwanzigstens Jahrhunderts wohl ebenso undenkbar wie für die Menschen im Mittelalter die Vorstellung, ein Bauer könne zum Ritter aufsteigen, oder in den USA noch vor wenigen Jahrzehnten der Gedanke, ein Mensch mit dunklerer Hautfarbe wäre ein geeigneter Präsident. Gesellschaftliche Überzeugungen entwickeln sich und Gesellschaften mit ihnen – und zum Glück manchmal auch vorwärts.
Dass der Senat mit mir nun wieder einer Frau die Ehrenbürgerwürde verleiht erst der fünften in über 200 Jahren freut mich darum besonders. Einer Stadt, in der es unter den Bürgern kein Oben und Unten geben soll, ist das sicherlich angemessen.
Ebenso sehr wie als Frau freue ich mich aber auch als Kinderbuchautorin. Kinderliteratur wird ja in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch eher im Bereich der Putzigkeiten angesiedelt als im Bereich der Kultur, irgendwo zwischen Playmo, Kuscheltieren und Barbiehaus, und wer wie ich seit Jahrzehnten für Kinder schreibt, kennt die Reaktionen, wenn er oder sie etwa auf einer langen Bahnfahrt, im Flugzeug, am Stehtisch bei einem Empfang, nicht umhin kommt, den Beruf preiszugeben. „Wie nett!“, sagt dann das Gegenüber in der Regel. „Und schreiben Sie auch richtige Bücher?“ Oder mit einem betrübten Nicken: „Ja, ein Kinderbuch wollte ich auch schon längst mal schreiben, ich habe da ganz großartige Ideen! Aber leider fehlt mir für so was ganz einfach die Zeit!“ gerade so, als sprächen wir von etwas, das absolut jeder in seiner Freizeit kurz mal erledigen könnte, nicht von einer Tätigkeit, die durchaus auch Qualifikationen erfordert. Ich stelle mir vor, ich würde dem Gas- und Wasserinstallateur, wenn ich ihm nach der Wartung unserer Heizung am Küchentisch meine Unterschrift unter seinen Tätigkeitsbericht gebe, seufzend erklären, auch mich hätte es schon immer gereizt, mal eine Heizung zu installieren mir fehle nur leider die Zeit.
Die schönsten, weil nahrhaften, Reaktionen gibt es manchmal in der Bahn, wo ältere Damen eilig ihre Tupperdosen öffnen und mir mitleidig von ihrem Reiseproviant aus hart gekochten Eiern, Frikadellen oder Leberwurstbroten mit sauren Gürkchen anbieten, vermutlich in der ja nicht unrealistischen Vorstellung, das Schreiben von Kinderbüchern könne unmöglich seine Frau ernähren. Solche kulinarischen Freuden bleiben da bin ich mir ziemlich sicher Autorinnen von Erwachsenenliteratur verwehrt, und hätte die Stadt sich entschieden, diese Ehrung einer unserer großartigen Belletristik-Autorinnen zu verleihen, die Medien wären sicher nicht halb so erstaunt gewesen.
Es gibt grottenschlechte Kinderbücher, das weiß ich wie Sie, aber ich kenne auch Literatur für Erwachsene, bei deren Lektüre es mich graust, und deshalb verdammen wir trotzdem nicht die gesamte Gattung. Natürlich kann die Kinderliteratur je nachdem, welche Altersgruppe ein Buch gerade adressiert sich nicht sämtlicher Mittel bedienen, die der Literatur für Erwachsene zur Verfügung stehen: Sie wäre dann keine Kinderliteratur mehr. Dafür muss sie aber andere Verfahren beherrschen, um die Kinder zu erreichen, wenn möglich ihr Herz wie ihren Verstand. Und ich bin mir beinahe sicher, dass jede und jeder hier im Saal ein Buch nennen könnte, das (aus welchem Grund immer) in Kindheit oder Jugend einen tiefen Eindruck hinterlassen hat, einen tieferen vielleicht, als es Büchern später überhaupt noch möglich war. Kinder- und Jugendbücher können häufig zum ersten Mal wichtige Einsichten vermitteln und damit die Grundlage für spätere moralische, daraus erwachsend dann gesellschaftliche und politische Haltungen legen. Ihre Bedeutung für das Leben der Einzelnen wie der Gesellschaft ist darum sicher nicht geringer als die der Erwachsenenliteratur.
Wenn die Freie und Hansestadt mit dieser Ehrung nun signalisiert, dass sie die aufgrund ihrer vielen Verlage und AutorInnen längst als heimliche deutsche Hauptstadt der Kinder- und Jugendliteratur gehandelt wird diese Bedeutung anzuerkennen bereit ist, dann freut mich das unbändig. Es ist eine mutige Entscheidung und auch damit entspricht Hamburg einmal mehr seinem 700 jährigen Anspruch.
Der Status der Kinderliteratur im gesellschaftlichen Bewusstsein hat aber ja nicht nur literarästhetische Gründe. Ganz stark, da bin ich mir sicher, hängt er auch damit zusammen, wie Kinder in unserer Gesellschaft überhaupt wahrgenommen und wert- oder nicht so sehr wertgeschätzt werden und damit auch diejenigen, die sich beruflich mit ihnen beschäftigen: Erzieherinnen zum Beispiel, Lehrer – und wenn ein Fahrgast sich in der eben erwähnten Bahn als Kinderarzt outet, wird auch für ihn die Tupperdose vielleicht eher geöffnet als für den Kardiologen.
Wie sehr begreifen wir als Gesellschaft die Bedeutung unserer Kinder über ihre sehr wohl wahrgenommene Rolle als Konsumenten hinaus und verhalten uns entsprechend? Diese Ehrung verstehe ich auch hier als ein Zeichen. Kinder sind unsere Zukunft, und auch wenn das so banal und trivial klingt, dass ich kaum wage, es auszusprechen, richtig ist es trotzdem. Und in ihre Zukunft muss eine Gesellschaft investieren.
Das ist der 3. Grund, aus dem ich mich so sehr über diese Ehrung freue. Sie signalisiert in meinen Augen auch, wie wichtig unserer Stadt Kinder und das Engagement für sie sind. Bei Lesungen erlebe ich regelmäßig Viertklässler, die sicher nicht dümmer geboren wurden als ihre Altersgenossen in bevorzugteren Familien, und die, wenn ich ein Buch hochhalte und sie nach dem Titel frage, – sagen wir mal: King-Kong, das Geheimschwein lange die Lippen bewegen, murmeln, bevor sie sich dann zögerlich trauen, stockend vorzulesen. Wie sollen diese Kinder in der Sekundarstufe 2 längere Texte im Biologie- oder Geschichtsbuch entschlüsseln und verstehen? Textaufgaben in Mathe? Anschließend die Berufsschule schaffen?
Ich bin sehr glücklich, dass ich im vergangenen Jahr aufgrund meines Engagements für die Forderung, jedes Kind müsse lesen lernen, erlebt habe, wie sich in Hamburg sowohl die politischen wie zivilgesellschaftliche Instanzen Einzelpersonen, Vereine, aber auch kleinere, mittlere und sehr große Stiftungen um dieses Thema und eine Verbesserung der desolaten Situation bemühen. Denn wer nicht lesen kann, hat kaum eine Chance auf Teilhabe an der Gesellschaft, wird keinen Beruf erlernen können ganz schlecht für unsere Wirtschaft, die in jedem Sommer händeringend nach Auszubildenden sucht! und auch keine Zeitung lesen: Ganz schlecht für unsere Demokratie, da sich diese Menschen, die sich von der Gesellschaft nicht nur ausgegrenzt fühlen, sondern es de facto ja auch sind, sehr viel leichter von Vereinfachungen und populistischen Erklärungen werden überzeugen lassen, wenn ihnen komplexe Argumentationen in Texten verschlossen bleiben. In Hamburg gibt es durchaus schon länger ein Bewusstsein dafür. Schon jetzt hat die Stadt trotz sicher nicht einfacher werdender Bedingungen hier in den vergangenen Jahren im Vergleich zu anderen Bundesländern massiv aufgeholt und wenn ich sehe, mit welcher ich wage jetzt mal zu sagen: fast schon Leidenschaft in den zuständigen Behörden an diesem schwierigen und komplexen Thema gearbeitet wird, macht mich das ein kleines bisschen zuversichtlich.
Jahrzehntelang haben wir über den demographischen Wandel geklagt und darüber, dass zu wenige Kinder geboren werden. Seit ein paar Jahren hat sich die Geburtenrate in Hamburg um fast ein Viertel erhöht, und ob das zum Segen wird oder zum Fluch, wird sich daran entscheiden, wie stark wir uns darum bemühen, diesen Kindern vor allem Bildungs- und Kulturteilhabe zu ermöglichen. Denn die meisten von ihnen werden ja nicht in Eppendorf oder Othmarschen geboren, in Eimsbüttel oder Volksdorf, und aus einer Vielzahl von Gründen dürfen wir nicht davon ausgehen, dass ihre Eltern es schon schaffen werden, ihnen die Möglichkeiten zu bieten, die nötig wären, um ihr volles Potential auszuschöpfen. Aber wenn es uns als Stadt gelingt, diesen Kindern eine gute Bildung mitzugeben, dann können sie einen unglaublichen Gewinn für uns bedeuten. Und mit diesem Engagement dürfen wir nicht warten, eigentlich keinen Tag, damit uns nicht jährlich einige tausend Kinder schon vor dem Ende der Grundschulzeit, vielleicht sogar schon vor der Einschulung verloren gehen. Jeder Cent, den wir hier heute investieren, spart uns übermorgen einen Euro dieser plakative Satz ist durch vielfältige internationale Untersuchungen belegt.
Mein Großvater war Landwirt in Dithmarschen, und er hätte über jeden gelacht, der versucht hätte ihm einzureden, man könne im Sommer oder Herbst ernten, ohne im Frühjahr ausgesät zu haben. Um die Aussaat zu ermöglichen, musste die Frau dann eben auf ein neues Kleid verzichten, er auf die längst benötigten neuen Schuhe und die Kinder auf ein Spielzeug. Wenn man begriffen hat, was am Wichtigsten ist, hat das Priorität. In Hamburg ist jetzt die Zeit für die Aussaat, und die dafür benötigten Mittel müssen freigestellt werden, um für uns alle eine gute Zukunft zu gewährleisten und einmal mehr der Richtschnur aus dem Ordelbook zu folgen, damit die Kluft zwischen oben und unten nicht noch weiter wächst.
Vielleicht denken manche von Ihnen jetzt, eine Frau, die noch nicht einmal ein richtiges Buch geschrieben hat und außerdem erst seit einer Stunde Bürgerin dieser Stadt ist, sollte ein bisschen zurückhaltender sein. Aber zu den Bürgerpflichten gehört meiner festen Überzeugung nach auch die Sorge um die Stadt, ihre Menschen und ihre Zukunft, und Ehrenbürgerin zu sein ist in meinen Augen nicht nur eine Auszeichnung, sondern vor allem eine Verpflichtung.
Ich danke dem Senat und der Bürgerschaft für diese wunderbare Ehrung und den vielen Menschen allen voran natürlich meiner Familie! die in den letzten Jahrzehnten mit mir diskutiert, Konzepte entwickelt, gestritten, gelacht, gekocht, gegessen und gefeiert haben, danke ich auch. Ohne Sie und euch alle stünde ich jetzt nicht hier.
Und Ihnen allen danke ich dafür, dass Sie gekommen sind und mir so lange zugehört haben.