2005
Ein Gespräch mit Kirsten Boie über ihren Roman Skogland
Friedrich Oetinger Verlag
Wie entstand die Idee zu Skogland?
Ich bin an einem grauen Novembertag am Tor eines großen Landgutes in Schlewig-Holstein vorbeigefahren, und plötzlich hatte ich die Idee, hier eine Prinzessin wohnen zu lassen, eine richtige Prinzessinnengeschichte zu schreiben und sie dann ganz einfach und heimtückisch für meine Zwecke zu benutzen. Mir ist ja bewusst, dass Kinder – und das ist auch ganz in Ordnung so! – fast immer nur aus einem einzigen Grund lesen: Um sich zu unterhalten, zu lachen, um sich Wünsche und Träume zu erfüllen beim Abtauchen in die Welt eines Buches. Ich habe also mit viel Vergnügen Figuren, von denen ich vermute, dass sie Kinder zum Lesen reizen, wie Prinzessinnen, Rebellen, einen Vizekönig und seinen hinterlistigen Berater, ein schüchternes Küchenmädchen, genutzt, um daraus eine spannende Handlung inklusive Verwechslungsgeschichte zu konstruieren und darin andere, ernsthaftere Themen quasi zu verstecken. Wer das eine – die Prinzessinnengeschichte, das Abenteuer – haben will, muss das andere – die Geschichte um Arm und Reich, ungleiche Chancen und gesellschaftliche Ungerechtigkeit – mitnehmen, so funktioniert das Buch.
Warum spielt Skogland in einem fiktiven Land?
In einem fiktiven Land kann ich alles quasi exemplarisch haargenau so entwickeln, wie ich es brauche, die Handlung, die Figuren, ohne Rücksichten nehmen zu müssen. Sogar meine Landschaft kann ich mir aussuchen. Außerdem ist es mir in diesem Buch ja nicht um ein bestimmtes Land gegangen, sondern um ein grundsätzliches Problem, um den Gegensatz zwischen Arm und Reich, meinetwegen zwischen Nord und Süd, der sich überall auf der Welt auf ganz unterschiedliche Weise konkret zeigt. Wenn also jemand zu mir sagt: „Es geht um den Irakkonflikt, stimmt`s?“ oder: „Ich hab gleich gemerkt, dass es um die Nachbarschaft Europa-Afrika geht“, oder: „Das hast du nach dem 11.September geschrieben“, oder:“Klar, das ist das Thema Migranten bei uns in Deutschland“ – dann kann ich in jedem einzelnen Fall ganz ehrlich sagen: nein, das meine ich nicht. Aber ja, all das meine ich und noch eine Menge dazu.
Inwiefern sind Ihnen diese Themen für den Roman wichtig?
Diese Themen sind mir für den Roman wichtig, weil sie in der Realität wichtig sind und den Alltag der Kinder prägen, auch ohne dass ihnen das bewusst ist. Viele Überlegungen, wie sie Figuren der Geschichte zum Konflikt zwischen Nord- und Südskogen anstellen, lassen sich auch schon von Kindern auf unsere heutige Wirklichkeit überragen. Aber ich glaube nicht eine Sekunde, dass ein Kind das Buch aus diesem Grund liest. Die Lesemotivation muss durch die Spannung der Handlung aufrecht erhalten werden, alles andere wird dann vielleicht, hoffentlich, so im Vorbeigehen auch noch mitgenommen.
Skogland ist voller Action und sehr spannend – was hat Ihnen beim Schreiben besonders Spaß gemacht?
Action gibt es ja eigentlich gar nicht so sehr viel – die Spannung entsteht eher aus den häufigen Wendepunkten und neu auftauchenden offenen Fragen, jedenfalls war das meine Absicht. Und genau das hat mich beim Schreiben natürlich fasziniert: Der Handlung immer wieder einen neuen Dreh zu geben, beim Leser Vermutungen aufzubauen, die sich dann später als falsch erweisen oder als Halbwahrheiten; überall Vorverweise einzubauen, die der Leser aber an dieser Stelle hoffentlich noch gar nicht in ihrer eigentlichen Bedeutung wahrnimmt. Ich habe ja bisher nicht so sehr viel Erfahrung mit einer derartigen Handlungsstruktur, obwohl ich gerne gut gebaute Krimis lese, und alles Neue reizt mich.
Die Rebellen in Skogland kämpfen für eine gerechte Sache und gehen dabei nicht immer zimperlich vor. Glauben Sie, dass es eine „gerechte“ Gewalt gibt?
Allzu viel Gewalt habe ich in diesem Buch ganz bewusst vermieden. Die skogischen Rebellen befinden sich ja zum Zeitpunkt des Geschehens noch in einer Phase, in der sie hoffen, der Konflikt würde sich auch ohne viel Blutvergießen lösen lassen, weil der König Reformen versprochen hat – Nahira, ihre Anführerin, betont immer wieder, dass sie Gewalt vermeiden will und keinen Flächenbrand wünscht. Gleichzeitig sieht sie aber, dass sie vor allem die jugendlichen Rebellen, die geradezu danach fiebern, ihr Leben einzusetzen, nicht mehr lange wird zurückhalten können; und tatsächlich passiert dann ein Anschlag, bei dem Menschen getötet werden. Aber im Buch wird auch ganz deutlich, dass man mit der Frage nach der „gerechten Gewalt“ sehr behutsam umgehen muss. Es wird gezeigt, dass Gewalt, einmal eingesetzt, Gegengewalt provoziert, dass der Konflikt, der mit ihrer Hilfe eigentlich beendet werden sollte, stattdessen weiter eskaliert. Die einmal begonnene Spirale der Gewalt wieder zu unterbrechen, ist dann fast unmöglich, das sehen selbst Kinder ja schon täglich in den Nachrichten.
Jarven beweist trotz ihrer Ängstlichkeit sehr viel Mut und weiß ziemlich genau, was gerecht ist und was nicht. Was mögen Sie besonders an ihrer Heldin Jarven?
Jarven ist, wie vermutlich die meisten von uns, gar nicht so besonders gerne mutig. Viel lieber würde sie wieder in ihr ganz alltägliches Leben zurückkehren, aber das ist eben nicht möglich, nachdem sie einmal in Skogland angekommen ist. Wenn sie mit Joas und Malena über den Sund flieht oder später zu Norlin zurückkehrt, um ihn auszuspionieren, dann tut sie das ja nie, weil sie besonders heldenhaft wäre oder sich für die Gerechtigkeit einsetzen will. Sie hat nur keine befriedigende andere Wahl. Jarven sieht sich einfach plötzlich in einer schwierigen, fast ausweglosen Situation, und darum handelt sie. Das halte ich übrigens für ziemlich realistisch.
Einmal in die Rolle eines anderen zu schlüpfen ist eine Vorstellung, die, glaube ich, einen besonderen Reiz auf fast jeden ausübt. Was ist der besondere Reiz der Prinzessinnenrolle, die Jarven ja zumindest zeitweise übernehmen darf?
Jeder, der kleine Mädchen kennt (oder selbst einmal eins war!), weiß, dass es kaum eine andere Rolle gibt, die für diese Gruppe attraktiver ist, man braucht sich nur den Fasching im Kindergarten und in der Grundschule anzusehen. So eine (Märchen-)prinzessin ist nämlich immer wunderschön, sie wird von allen bewundert und geliebt, sie darf über alle bestimmen und die finden das auch noch ganz in Ordnung, sie ist so reich, dass sie alles haben kann, was sie möchte, und ihr Vater, der König, hat sie schrecklich lieb. (Ihre Mutter, die Königin, auch.) So ungefähr alles, was sich ein Kind wünschen kann, ist in dieser Rolle vereint, und wenn das Kind dann größer wird, sitzt dieses Bild von der Märchenprinzessin längst fest, davon lebt ja eine ganze Zeitschriftenbranche. Und mir hat es natürlich auch viel Spaß gemacht, mal so richtig ins königliche Milieu einzutauchen, das gebe ich gerne zu, ohne mich allzu sehr zu schämen!
Was bedeutet Ihnen die Arbeit als Schriftstellerin? Hat sich Ihr Selbstverständnis als Schriftstellerin inzwischen verändert? Und wenn ja, inwiefern?
Nach wie vor genieße ich es wirklich enorm zu schreiben, ich glaube, „genießen“ ist das einzig passende Wort. Aber natürlich hat sich in meinem Bewusstein in diesen zwanzig Jahren viel geändert. Als ich anfing, habe ich noch geglaubt, dass sehr viel mehr Kinder mit Vergnügen läsen und dass es eine deutlich größere Zahl gäbe, die auch an inhaltlich, vielleicht sogar formal anspruchsvolleren Büchern Freude hätten. Da habe ich im Laufe der Jahre hinzulernen müssen. Wir haben es heute mit einer großen Zahl von Kindern zu tun, für die es immer schwieriger wird, überhaupt einen Zugang zum Lesen zu finden, und das kann ich als Autorin beim Schreiben nicht einfach ignorieren. Schließlich ist das Bücherschreiben eine kommunikative Tätigkeit, Bücher wollen gelesen werden. Aber deswegen muss ich noch lange nicht jeden vermeintlichen Anspruch der Kinder befriedigen und jeden eigenen Anspruch aufgeben. Ein bisschen ist es mit dem Schreiben für mich inzwischen so wie für eine Mutter, die sich um die Ernährung für ihr Kind sorgt: Ließe sie das Kind essen, was es wollte, es würde sich allein von BigMacs, Smarties und Milchschnitten ernähren, und das wäre sicher nicht gesund. Deshalb muss sie ihm aber ja noch lange nicht täglich Bio-Tofu mit Spinat anbieten. Es gibt einen, wenn auch vielleicht nicht immer goldenen, Mittelweg. Und den versuche ich beim Schreiben zu finden.
Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?
Bevor ich angefangen habe, Bücher zu schreiben, war ich Lehrerin, und zwar sehr gerne, zuerst an einem Gymnasium, dann an einer Ganztagsgesamtschule in einem sozialen Brennpunkt, und ich wollte auch gar nichts anderes tun. Aber dann haben mein Mann und ich unser erstes Kind adoptiert, und merkwürdigerweise verlangte das zuständige Jugendamt auch nach dem Erziehungsurlaub noch von mir, weiterhin zu Hause zu bleiben und mich ausschließlich um mein Kind zu kümmern. Weil aber zu meinem Lebensentwurf immer beides gehört hatte, Familie und Beruf, und weil wir auch finanziell ein bisschen nachdenklich geworden sind, habe ich gegrübelt, was ich denn nun tun könnte, ohne dass das Jugendamt mir so schnell auf die Schliche kommt; und da ist mir wieder eingefallen, dass ich als Kind und als Jugendliche immerzu Geschichten geschrieben hatte – damals natürlich für Erwachsene. Und eines Tages, als ich meinem Sohn die Flasche gegeben habe, waren dann plötzlich ganz ohne mein Zutun die ersten Sätze meines ersten Buches da und wollten aufgeschrieben werden. Das Buch ist dann „Paule ist ein Glücksgriff“ geworden, natürlich eine Geschichte über einen adoptierten Jungen.
Was finden Sie am Schreiben besonders reizvoll?
Am Schreiben speziell für Kinder? Dass Kinder ein wunderbares Lesepublikum sind und sich viel leichter begeistern lassen als Erwachsene; dass man sogar die Hoffnung haben darf, bei ihnen noch etwas zu bewirken, weil sie beim Lesen eines Buches auf einen Gedanken, einen Zusammenhang, eine Einsicht vielleicht zum ersten Mal stoßen, usw. Aber hinzu kommt etwas ganz Egoistisches, nämlich: dass das Schreiben mich immer wieder überrascht, jedes Mal, immer noch. Ich kann eine Handlung noch so detailliert geplant haben, beim Schreiben selbst passiert etwas, das ist von meinem Bewusstsein und meiner Planung völlig unabhängig. Plötzlich tauchen Sätze und Bilder auf, von denen ich vorher keine Ahnung hatte, die Handlung nimmt eine Wendung, die nicht angedacht war, Menschen verhalten sich anders, als ich es für sie vorgesehen hatte. Ein bisschen ist das, als ob ich beim Schreiben gleichzeitig ein unbekanntes Buch in meinem Kopf läse, das ist immer wieder verblüffend und spannend. In Wirklichkeit kommt da natürlich einfach das Unbewusste in Schwung und liefert alles ab, was schon ewig nutzlos irgendwo versteckt gelagert war. Das hat einen ziemlichen Reiz.
Welches Ihrer Bücher ist ihnen persönlich besonders wichtig?
Spontan fällt mir da als erstes „Monis Jahr“ ein, das ja als Geschichte aus den fünfziger Jahren eher atypisch für meine Bücher ist und das beim Schreiben viele Erinnerungen an meine Kindheit bei mir geweckt hat. Oder ein vollkommen anderes Buch, „Nicht Chicago. Nicht hier“, ein Jugendbuch, in dem es um einen Jugendlichen geht, der von einem Mitschüler terrorisiert wird, oder, wieder ganz anders, die „Möwenweg“-Bücher, Idyllen, die offenbar gerade darum von vielen Kindern geliebt werden. Es ist ja nichts Schlimmes, sich ab und zu in der Fiktion einmal in eine Idylle zurückzuziehen, vielleicht findet ein Kind dann dadurch die Kraft, sich im Alltag auch mit dem nicht so Idyllischen seines Lebens auseinander zu setzen. Und „Sophies schlimme Briefe“, natürlich, in dem es um „schlechte Wörter“ geht, und „Erwachsenen reden, Marco hat was getan“, ein Buch über Rechtsradikalismus, und „Ich ganz cool“ und das Schwedensommerbuch „Man darf mit dem Glück nicht drängelig sein“- mir fallen immer mehr Titel ein, es wäre unehrlich, wenn ich ein Buch ganz besonders hervorheben wollte.
Wie sieht ein „normaler“ Arbeitstag bei Kirsten Boie aus? Haben Sie regelmäßige Schreibzeiten? Haben Sie einen Lieblingsplatz zum Schreiben? Was brauchen Sie unbedingt oder was stört Sie absolut?
Ich stehe morgens früh auf, und wenn meine Familie aus dem Haus gegangen ist, zur Arbeit und zur Schule, dann setze ich mich an meinen Laptop, lese durch, was ich am Vortag geschrieben habe, korrigiere, was mir spontan auffällt, und fange an zu schreiben. Selbst wenn ich nicht die geringste Lust dazu habe, setze ich mich hin und lese wenigstens die Ergebnisse des Vortags durch: Und in 99% der Fälle bekomme ich dadurch dann eben doch große Lust, weiter zu machen. Früher musste ich am Küchentisch schreiben, oft mit dem morgendlichen Chaos im Rücken; inzwischen habe ich ein Arbeitszimmer, das macht vieles einfacher. Ich schreibe ungefähr drei bis vier Stunden, und wenn ich einmal nicht weiter weiß (und das kommt schon vor) oder einfach wirklich überhaupt keine Lust mehr habe, dann setze ich eben die Kartoffeln auf oder fange an, den Keller aufzuräumen. Ich glaube, das ist eine wunderbare Methode, nie darüber nachdenken zu müssen, ob ich vielleicht gerade dabei bin, eine Schreibblockade zu entwickeln. (Für meinen Keller wäre eine Schreibblockade allerdings dringend nötig.) Außer meinem Laptop brauche ich nichts. Ruhe ist natürlich schön, aber da ich angefangen habe zu schreiben, als die Kinder klein waren, war ich von Anfang an Unterbrechungen und Störungen gewöhnt, und das hat heute seine Vorteile: Ich kann während des Schreibens jedes Telefonat annehmen und hinterher weiter arbeiten, als wäre nichts gewesen. Da habe ich ziemliches Glück.
An welchem Projekt arbeiten Sie zurzeit?
Ich bin, was das Schreiben betrifft, abergläubisch, ich spreche nie über das, woran ich gerade sitze. Aber so viel traue ich mich trotzdem zu sagen: Es ist ein Buch für deutlich jüngere Kinder, als „Skogland“ es ist. Schon wenn sie noch ziemlich klein sind, müssen sie ja merken, dass Bücher Spaß machen können. Darum habe ich diesmal auch vor allem die kleinen Jungen als Zuhörer und Selberleser im Kopf, Jungen sind ja immer noch die Hauptleseverweigerer. Und ich hoffe, dass es für diese Altersgruppe ein spannendes Buch ist, und ich hoffe, dass es auch ein lustiges Buch ist. Ich war beim Schreiben jedenfalls oft ziemlich vergnügter Stimmung.
ABDRUCK HONORARFREI – BELEGE ERBETEN
Das Interview mit Kirsten Boie führte Judith Kaiser (Oetinger) im Juni 2005