2013
Es gibt Geschichten, über die muss man sprechen
Nicole Hartmann, Oetinger Verlag, im Gespräch mit Kirsten Boie zum Buch "Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen"
Ihr neues Buch erscheint im Oktober 2013 unter dem Titel „Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen“ und versammelt Geschichten über Swasiland. Was verbinden Sie mit diesem Land in Afrika?
Swasiland ist ein landschaftlich wunderschönes Land zwischen Südafrika und Mozambique. Das Land hat die höchste HIV-Infektionsrate weltweit, die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 31 Jahre; 12% der Bevölkerung sind daher Waisen oder Halbwaisen, das sind 45% aller Kinder. Da dies das Kernproblem des Landes ist, aus dem praktisch alle weiteren Probleme resultieren, ist es das Erste, worüber ich sprechen muss, wenn ich an Swasiland denke.
Ihre Geschichten spielen in Shiselweni, einem der vier Distrikte Swasilands. Wie sieht es dort aus und in welcher Situation befinden sich die Kinder?
Shiselweni ist der abgelegenste und infrastrukturell am wenigsten erschlossene Distrikt des Landes. und liegt in einer idyllischen Bergregion. Das Straßennetz besteht abseits der Hauptstraßen aus Sandpisten in zum Teil katastrophalem Zustand, da die Menschen, die sie in Ordnung halten müssten, zunehmend krank sind oder sterben. Dorfgemeinschaften sind oft nur durch Fußpfade miteinander verbunden. Es gibt, wie in Afrika inzwischen ja üblich, zwar ziemlich überall ein Handynetz, das Geld für airtime ist aber von den Menschen kaum aufzubringen: 63% leben von weniger als 60 Cent am Tag. Internetzugang, Fernsehen, überhaupt die für uns selbstverständlichen Informations- und Kommunikationsmittel sind dort kaum verbreitet, was jede Arbeit in der Region erheblich erschwert.
Viele Kinder haben durch AIDS ihre Eltern verloren, leben mit ihrer Großmutter oder als child headed families allein, häufig in Lehmhütten, die allmählich verfallen, weil die Kinder sie nach den starken Regenfällen der Regenzeit nicht wieder instand setzen können. Sie leben ohne Strom und Wasser, und Spielzeug, egal wie klein oder schäbig, habe ich nicht ein einziges Mal irgendwo gesehen. Traditionell haben sich in Swasiland die Dorfgemeinschaften um verwaiste Kinder gekümmert und genau das ist, wegen des rasanten Schrumpfens der Dorfgemeinschaften, jetzt nicht mehr möglich. Früher gab es auf siSwati nicht einmal ein Wort für „Waise“. Jetzt müssen vollkommen neue Wege der Unterstützung und Betreuung der Waisen gefunden werden.
Gab es reale Vorbilder für Thulani, Nomphilo, Sonto und die anderen Kinder in Ihren Erzählungen?
Ja. All diese Kinder habe ich kennen gelernt, zu Hause in ihren Hütten. Aber natürlich bleibt eine Geschichte immer eine Geschichte. Meine Schwierigkeit im Umgang mit diesen Erlebnissen war und ist bis heute dass das Elend, das uns in Swasiland regelmäßig begegnet, so sehr über meinen eigenen Erfahrungshorizont hinaus geht, dass ich alles, was ich sehe und höre, nur schwer glauben kann. Wenn man z.B. einen Workshop besucht, in dem Frauen lernen, wie man Memory Books schreibt und bastelt, die für die Kinder die Erinnerung an ihre toten Eltern aufrecht erhalten sollen, (davon handelt ja die Geschichte „Mamas Buch“), wenn diese Frauen dabei aber ganz vergnügt sind, schwatzen und lachen und sich keineswegs so verhalten, wie wir das vielleicht von Menschen erwarten würden, die den Tod vor Augen haben; wenn die Kinder spielen und toben und Quatsch machen und sich kaputt lachen wollen, wenn man mit ihnen herum kaspert dann erschwert das den Glauben an die Realität, von der man ja weiß. Jeder kennt das: Es gibt Dinge, die man weiß und trotzdem nicht glauben kann. Indem ich die Geschichten aufgeschrieben habe, habe ich die Wirklichkeit, die ich erlebt habe, auch für mich selbst noch einmal beglaubigt.
Sie engagieren sich seit sechs Jahren in einem AIDS-Waisen-Projekt. Worin besteht die Arbeit dieses Projekts?
Eine Situation, wie wir sie in Swasiland gerade erleben und bei der die Elterngeneration in einem Land einfach wegstirbt, während die Kinder allein zurückbleiben, ist historisch neu. Gewohnte westliche Formen der Versorgung von Waisen wie Waisenhäuser oder Kinderdörfer funktionieren nicht bei geschätzten 150 000 Waisen auf eine Bevölkerung von nur einer Million. Aus Swasiland selbst stammt das Konzept der Neighboorhood Carepoints (NCPs Swasiland ist auch das Land der Abkürzungen!). Ehrenamtliche aus den Dörfern betreuen dort ohne jede Bezahlung vor allem Kleinkinder, die täglich kommen und mittags auch dort essen können. Diese Idee ist im Land selbst entstanden man muss die Situation kennen, um adäquat reagieren zu können.
Das Projekt MobiDiK („Mobiler Dienst für Kinder“) unterstützt die Ehrenamtlichen an 100 NCPs auf unterschiedlichste Weise, materiell und durch Fortbildungen, und betreut die ca. 4000 Kinder direkt an den NCPs mit einem Ambulanzfahrzeug regelmäßig medizinisch. Wenn 50% der Mütter bei der Geburt HIV-positiv sind, dann müssen die Kinder zudem dringend getestet und hinterher eventuell weiter betreut werden, sie müssen geimpft und bei einer Nahrung, die praktisch nur aus Maisbrei besteht, und nicht einmal das ist garantiert mit Vitaminen versorgt werden. Ein zweites Ambulanzfahrzeug soll angeschafft werden, ein Hausbesuchssystem für Kranke ist derzeit mit Unterstützung eines extra eingestellten medical coordinator in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium im Entstehen, dafür werden robuste Fahrzeuge benötigt.
Welche Hilfe und Unterstützung benötigen Kinder in Swasiland aus Ihrer Sicht am dringendsten?
Was diese Kinder vor allem interessiert ist ganz einfach: dass sie einmal täglich zu essen bekommen; dass es immer noch jemanden gibt, der für sie da ist; und wenn sie älter werden, dass sie zur Schule gehen können auch weil die Schule für die meisten Kinder der fröhlichste Ort in ihrem Leben ist. Um dabei zu helfen, kann man von hier aus dafür sorgen, dass vor Ort Nahrung, Betreuung und medizinische Versorgung wenigstens rudimentär gewährleistet sind. Ganz dringend müsste natürlich auch eine bisher gänzlich fehlende Palliativversorgung aufgebaut werden darüber mag ich überhaupt nicht nachdenken. Allerdings stellen sich noch sehr viel weiter gehende Fragen: Was wird aus Kindern, die Krankheit und Sterben der Eltern in ihren Hütten miterlebt haben, die hinterher im glücklichsten Fall von einer überforderten Großmutter betreut werden oder als sogenannte „child headed families“ allein leben? Was bedeutet all das für ihre psychische und soziale Entwicklung? Viele sind traumatisiert. Was wird aus einer elternlosen Generation, die nicht mehr lernt, dass die Eltern ihre Felder bestellen oder auf andere Weise für das Auskommen der Familie sorgen, sondern immerzu von (oft auch ausbleibender) Unterstützung lebt? Wenn man ein bisschen über die Gegenwart hinaus denkt, dann müssten Ausbildungsprojekte geschaffen werden, angepasst an die Infrastruktur des Landes, Arbeitsplätze sobald man Swasiland ein bisschen besser kennt und anfängt nachzudenken, stellen sich ständig neue Fragen. Aber zunächst muss es einfach nur darum gehen, den Kindern das Überleben zu sichern. Was danach kommt, kommt danach.
Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen… Wie schwer ist es Ihnen gefallen, diese Geschichten in Worte zu fassen?
Die erste Geschichte hat mich nach meiner ersten Swasiland-Reise regelrecht überfallen am Flughafen Matsapha hatte die kleine Maschine nach Johannesburg vor meinem Rückflug wegen eines technischen Defekts einen mehrstündigen Aufenthalt, und in dieser Zeit habe ich dann den Anfang der Geschichte „Ich kenne einen Jungen in Afrika“ mit Kugelschreiber vorne in meine Reiselektüre, einen Taschenbuchkrimi, geschrieben; am Tag vorher hatte ich die elternlose Kinderfamilie mit der gelähmten Großmutter gerade besucht, und sie ist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Danach habe ich aber erstmal eine Pause mit dem Schreiben gemacht die Swasiland-Erfahrungen habe ich als meine sehr persönlichen Erfahrungen empfunden, und ich wollte damit zunächst nicht an die Öffentlichkeit gehen.
Was hat Sie bewogen, jetzt dieses Buch zu veröffentlichen?
Inzwischen denke ich, dass es Sinn macht solche Erlebnisse zu teilen. Wir alle kennen ja unendlich viele Fotos, Dokumentarfilme, etc. über jede Form von Elend, nichts kann uns mehr überraschen und wirklich berühren – vielleicht auch deshalb verblüfft mich immer noch, wie sehr mich das, was ich in Swasiland erlebe, bis heute erschüttert und als wie unglaublich und geradezu unglaubwürdig ich es nach wie vor jedes Mal empfinde. Ich hatte beim Schreiben ein bisschen die Hoffnung, dass Erfahrungen, die in ihrer Intensität durch Bilder kaum mehr vermittelt werden können, vielleicht noch durch Sprache vermittelbar sind. Auch das bedeutet der Titel, der ja ein Zitat aus dem Buch ist: Es gibt Dinge, die sind so unglaublich, dass wir sie nicht wirklich erzählen, nicht wirklich vermitteln können.
Und doch müssen wir dann nach einer gewissen Sprachlosigkeit gerade über diese Dinge sprechen. Liegt darin schließlich auch die Motivation für Ihr Schreiben?
Eine der Motivationen. Wenn das Buch den Lesern noch einmal bewusst macht, dass das Elend anderswo auf der Welt und ja nicht nur in Swasiland ganz andere Ausmaße hat, und wenn das dann vielleicht noch etwas bei ihnen anstößt, dann hätten diese Geschichten für mich einen Zweck erfüllt, der ja, wie die Entstehungsgeschichte der ersten Erzählung zeigt, gar nicht der ursprüngliche Anlass war. Geschrieben hätte ich sie so oder so. Einfach um mit meinen Erfahrungen fertig zu werden auf die Weise, auf die Autoren das eben meistens erledigen: Durch Erzählen.
Kirsten Boie unterstützt das Projekt MobiDiK Swasiland.