2007
Interview zum Buch Alhambra
Friedrich Oetinger Verlag
Woher kam die Idee zu „Alhambra“?
Auf einer Reise durch Andalusien vor zwei Jahren hat mich Granada (vielleicht gerade, weil wir es bei strömendem Regen besucht haben, wie man auf den ersten Seiten des Buches unschwer merken kann) so fasziniert, dass die Stadt allein schon eine ziemliche Schreiblust bei mir geweckt hat: Das „Vorspiel“ habe ich noch in Andalusien im Liegestuhl geschrieben, ohne zu wissen – wohl aber schon mit dem Hauch einer Ahnung! – was daraus einmal werden sollte. Es war also zunächst überhaupt nicht die Geschichte des Jahres 1492, die mich gereizt hat, eher die in der Architektur ja in Granada überall noch lebendige maurische Vergangenheit der Stadt, die Frage nach dem – meistens offenbar relativ friedlichen – Zusammenleben der Menschen verschiedener Religionen in den sieben Jahrhunderten des muslimisch regierten al-Andalus.
Sie haben Ihrem Buch ein Zitat aus „Nathan der Weise“ von Lessing vorangestellt. Die Frage aus „Nathan der Weise“, die Frage nach der wahren Religion, ist aktueller denn je. Warum gehen Sie ins Jahr 1492 zurück, um davon zu erzählen?
Als Jugendliche habe ich – wie vermutlich eine ganze Reihe meiner Altersgenossen – mein (äußerst begrenztes) Wissen über die Französische Revolution dem Schmöker „Desirée“ von Annemarie Selinko entnommen, meine Informationen über die Staatsgründung Israels dem Roman „Exodus“ von Leon Uris. Ich war nicht nur eher bereit, mich mit historischen Zusammenhängen auseinander zu setzen, wenn sie in eine spannende Handlung mit der Möglichkeit zur Identifikation verpackt waren, sie blieben mir auch dauerhafter im Gedächtnis – wobei das dann ganz sicher nicht immer diejenigen historischen Aspekte waren, von denen sich das meine nette Geschichtslehrerin gewünscht hätte.
Literatur begegnet man, vermute ich, mit größerer Anteilnahme als Geschichtsunterricht, Analysen, nackten Fakten. Auch die Bereitschaft, fest gefahrene Überzeugungen zu hinterfragen, sich mit Problemen auseinanderzusetzen, die – da alles weit zurückliegt – mir nicht mehr wirklich Entscheidungen abverlangen, ist beim Leser historischer Romane möglicherweise größer als beim Zeitungsleser. Und neue Interpretationsmuster für die Gegenwart liefert ein historischer Roman ja immer gratis mit dazu.
Daran habe ich mich erinnert, als ich bei meiner Lektüre über die sieben Jahrhunderte maurischer Herrschaft in Andalusien auf die Geschehnisse des Jahres 1492 gestoßen bin – und übrigens ein bisschen beschämt war, wie wenig ich vorher gewusst hatte. Dass wir 1492 als den Beginn der Neuzeit und das Ende des Mittelalters bezeichnen, ist ja keineswegs so willkürlich, wie es demjenigen erscheinen mag, der das Jahr nur mit der Entdeckung Amerikas assoziiert. 1492 ist quasi das Epizentrum eines Geschichtsbebens, dessen Wellen uns bis heute zu schaffen machen: Die Verfolgung und Vertreibung der Juden, mit deren Besitz die durch die Maurenkriege ruinierten spanischen Staatsfinanzen saniert werden sollten; der endgültige Sieg der Christen über die Muslime, deren Demütigung durch den Bruch aller vertraglich zugesicherten Zusagen vielleicht bis heute im Verhältnis der beiden Religionen zueinander nachwirkt; schließlich die ja vollkommen aberwitzige und allen wissenschaftlichen Erwartungen widersprechende Entdeckung Amerikas. Die Ereignisse dieses Jahres, die Verknüpfung (und Verwechslung) von politischer, ökonomischer und religiöser Motivation, das Eingreifen des Zufalls: Vieles daran erscheint mir geradezu exemplarisch bis heute, am Beispiel einer noch viel einfacher strukturierten Welt aber auch viel leichter darzustellen.
Hinzu kommt, dass wir mit der katholischen Inquisition ein Musterbeispiel des religiösen Fundamentalismus vor uns haben, der politisch in Dienst genommen wird und ohne Zögern und im Bewusstsein, dem eigenen Gott zu dienen, Tausende Andersgläubiger foltert und ermordet: Über Jahrhunderte hat sie bekanntlich in Spanien Muslime wie Juden wie vermeintliche Ketzer aller Art verfolgt und das Klima des Landes geprägt. (Einen skurrilen und kulinarisch erfreulichen Nebeneffekt hatte die Inquisition dabei übrigens: Den wunderbaren spanischen Schinken haben wir nur ihrer hemmungslosen Schnüffelei zu verdanken; denn da der Genuss von Schweinefleisch, das ja Juden wie Muslimen verboten ist, als Beweis für die Zugehörigkeit zum Christentum galt, wurde in Spanien schon aus Angst jahrhundertelang so viel Schweinefleisch verzehrt wie nirgendwo sonst.)
Was in Ihrem Roman basiert auf historischen Fakten und was haben Sie frei erfunden?
Ich habe versucht, mich streng an die historischen Fakten zu halten, soweit ich sie aus den (z. T. auch widersprüchlichen) Darstellungen erschließen konnte – mit Ausnahme, natürlich, aller Handlungselemente, die mit Bostons Zeitreise zu tun haben. Aber auch sie sind einfach nur eingebunden in die historischen Ereignisse und verändern nichts.
Eine kleine Freiheit habe ich mir allerdings erlaubt: Johanna, die später die Wahnsinnige genannt wurde, feierte tatsächlich 1493 ihre Verlobung mit Philipp von Burgund. Davon, dass schon 1492 eine Reise nach Granada geplant gewesen und später abgesagt worden wäre, ist der Geschichtsschreibung bisher nichts bekannt – mir hat sie aber ganz wunderbar ins Handlungskonzept gepasst. Und da ich diese Reise ja nicht tatsächlich stattfinden, sondern schon vor ihrem Beginn scheitern lasse, hatte ich da auch keine übermäßigen Skrupel.
Wenn Sie eine Zeitreise machen könnten, in welche Zeit würden Sie am liebsten reisen?
Ich lebe ganz gerne heute, vielen Dank! Darum bin ich bei der Berührung von Fliesen (außer wenn ich beim Putzen von Küche und Bad dazu gezwungen bin!) neuerdings auch ein bisschen vorsichtig geworden …
Was bedeutet Ihnen die Arbeit als Schriftstellerin? Hat sich Ihr Selbstverständnis als Schriftstellerin inzwischen verändert? Und wenn ja, inwiefern?
Nach wie vor genieße ich es wirklich enorm zu schreiben, ich glaube, „genießen“ ist das einzig passende Wort. Aber natürlich hat sich in meinem Bewusstsein in diesen zwanzig Jahren viel geändert. Als ich anfing, habe ich noch geglaubt, dass sehr viel mehr Kinder mit Vergnügen läsen und dass es eine deutlich größere Zahl gäbe, die auch an inhaltlich, vielleicht sogar formal anspruchsvolleren Büchern Freude hätten. Da habe ich im Laufe der Jahre hinzulernen müssen. Wir haben es heute mit einer großen Zahl von Kindern zu tun, für die es immer schwieriger wird, überhaupt einen Zugang zum Lesen zu finden, und das kann ich als Autorin beim Schreiben nicht einfach ignorieren. Schließlich ist das Bücherschreiben eine kommunikative Tätigkeit, Bücher wollen gelesen werden. Aber deswegen muss ich noch lange nicht jeden vermeintlichen Anspruch der Kinder befriedigen und jeden eigenen Anspruch aufgeben. Ein bisschen ist es mit dem Schreiben für mich inzwi¬schen so wie für eine Mutter, die sich um die Ernährung für ihr Kind sorgt: Ließe sie das Kind essen, was es wollte, es würde sich allein von BigMacs, Smarties und Milchschnitten ernähren, und das wäre sicher nicht gesund. Deshalb muss sie ihm aber ja noch lange nicht täglich Bio-Tofu mit Spinat anbieten. Es gibt einen, wenn auch vielleicht nicht immer goldenen, Mittelweg. Und den versuche ich beim Schreiben zu finden.
Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?
Bevor ich angefangen habe Bücher zu schreiben, war ich Lehrerin, und zwar sehr gerne, zuerst an einem Gymnasium, dann an einer Ganztagsgesamtschule in einem sozialen Brennpunkt, und ich wollte auch gar nichts anderes tun. Aber dann haben mein Mann und ich unser erstes Kind adoptiert, und merkwürdigerweise verlangte das zuständige Jugendamt auch nach dem Erziehungsurlaub noch von mir, weiterhin zu Hause zu bleiben und mich ausschließlich um mein Kind zu kümmern. Weil aber zu meinem Lebensentwurf immer beides gehört hatte, Familie und Beruf, und weil wir auch finanziell ein bisschen nachdenklich geworden sind, habe ich gegrübelt, was ich denn nun tun könnte, ohne dass das Jugendamt mir so schnell auf die Schliche kommt; und da ist mir wieder eingefallen, dass ich als Kind und als Jugendliche immerzu Geschichten geschrieben hatte – damals natürlich für Erwachsene. Und eines Tages, als ich meinem Sohn die Flasche gegeben habe, waren dann plötzlich ganz ohne mein Zutun die ersten Sätze meines ersten Buches da und wollten aufgeschrieben werden. Das Buch ist dann „Paule ist ein Glücksgriff“ geworden, natürlich eine Geschichte über einen adoptierten Jungen.
Was finden Sie am Schreiben besonders reizvoll?
Am Schreiben speziell für Kinder? Dass Kinder ein wunderbares Lesepublikum sind und sich viel leichter begeistern lassen als Erwachsene; dass man sogar die Hoffnung haben darf, bei ihnen noch etwas zu bewirken, weil sie beim Lesen eines Buches auf einen Gedanken, einen Zusammenhang, eine Einsicht vielleicht zum ersten Mal stoßen, usw. Aber hinzu kommt etwas ganz Egoistisches, nämlich: dass das Schreiben mich immer wieder überrascht, jedes Mal, immer noch. Ich kann eine Handlung noch so detailliert geplant haben, beim Schreiben selbst passiert etwas, das ist von meinem Bewusstsein und meiner Planung völlig unabhängig. Plötzlich tauchen Sätze und Bilder auf, von denen ich vorher keine Ahnung hatte, die Handlung nimmt eine Wendung, die nicht angedacht war, Menschen verhalten sich anders, als ich es für sie vorgesehen hatte. Ein bisschen ist das, als ob ich beim Schreiben gleichzeitig ein unbekanntes Buch in meinem Kopf läse, das ist immer wieder verblüffend und spannend. In Wirklichkeit kommt da natürlich einfach das Unbewusste in Schwung und liefert alles ab, was schon ewig nutzlos irgendwo versteckt gelagert war. Das hat einen ziemlichen Reiz.
Welches Ihrer Bücher ist ihnen persönlich besonders wichtig?
Spontan fällt mir da als Erstes „Monis Jahr“ ein, das ja als Geschichte aus den fünfziger Jahren eher atypisch für meine Bücher ist und das beim Schreiben viele Erinnerungen an meine Kindheit bei mir geweckt hat. Oder ein vollkommen anderes Buch, „Nicht Chicago. Nicht hier“, ein Jugendbuch, in dem es um einen Jugendlichen geht, der von einem Mitschüler terrorisiert wird, oder, wieder ganz anders, die „Möwenweg“-Bücher, Idyllen, die offenbar gerade darum von vielen Kindern geliebt werden. Es ist ja nichts Schlimmes, sich ab und zu in der Fiktion einmal in eine Idylle zu¬rückzuziehen, vielleicht findet ein Kind dann dadurch die Kraft, sich im Alltag auch mit dem nicht so Idyllischen seines Lebens auseinanderzusetzen. Und „Sophies schlimme Briefe“, natürlich, in dem es um „schlechte Wörter“ geht, und „Erwachsene reden, Marco hat was getan“, ein Buch über Rechtsradikalismus, und „Ich ganz cool“ und das Schwedensommerbuch „Man darf mit dem Glück nicht drängelig sein“- mir fallen immer mehr Titel ein, es wäre unehrlich, wenn ich ein Buch ganz besonders hervorheben wollte.
Wie sieht ein „normaler“ Arbeitstag bei Kirsten Boie aus? Haben Sie regelmäßige Schreibzeiten? Haben Sie einen Lieblingsplatz zum Schreiben? Was brauchen Sie unbedingt oder was stört Sie absolut?
Ich stehe morgens früh auf, und wenn meine Familie aus dem Haus gegangen ist, zur Arbeit und zur Schule, dann setze ich mich an meinen Laptop, lese durch, was ich am Vortag geschrieben habe, korrigiere, was mir spontan auffällt, und fange an zu schreiben. Selbst wenn ich nicht die geringste Lust dazu habe, setze ich mich hin und lese wenigstens die Ergebnisse des Vortags durch: Und in 99% der Fälle bekomme ich dadurch dann eben doch große Lust weiterzumachen. Früher musste ich am Küchentisch schreiben, oft mit dem morgendlichen Chaos im Rücken; inzwischen habe ich ein Arbeitszimmer, das macht vieles einfacher. Ich schreibe ungefähr drei bis vier Stunden, und wenn ich einmal nicht weiterweiß (und das kommt schon vor) oder einfach wirklich überhaupt keine Lust mehr habe, dann setze ich eben die Kartoffeln auf oder fange an den Keller aufzuräumen. Ich glaube, das ist eine wunderbare Methode, nie darüber nachdenken zu müssen, ob ich vielleicht gerade dabei bin, eine Schreibblockade zu entwickeln. (Für meinen Keller wäre eine Schreibblockade allerdings dringend nötig.) Außer meinem Laptop brauche ich nichts. Ruhe ist natürlich schön, aber da ich angefangen habe zu schreiben, als die Kinder klein waren, war ich von Anfang an Unterbrechungen und Störungen gewöhnt, und das hat heute seine Vorteile: Ich kann während des Schreibens jedes Telefonat annehmen und hinterher weiterarbeiten, als wäre nichts gewesen. Da habe ich ziemliches Glück.
ABDRUCK HONORARFREI – BELEGE ERBETEN
Das Interview mit Kirsten Boie führte Judith Kaiser (Oetinger) im Mai 2007.