2015
Leseförderung muss bei den Eltern anfangen
BuB, Forum Bibliothek und Information
o Frau Boie, wir erleben derzeit eine regelrechte Hysterie ums Lesen. Warum sollen Kinder, die keine Lust dazu haben, unbedingt Bücher lesen?
Das ist zunächst mal ein total pragmatischer Ansatz, dem es (zumindest bei mir) gar nicht primär um die Bedeutung von Literatur, sondern um die Bedeutung der Lesekompetenz geht: Der Textumfang, der in den ersten Schuljahren beim schulischen Lesen bewältigt werden muss, reicht sehr häufig nicht aus, um bei einem Kind eine dauerhafte, stabile Lesekompetenz aufzubauen, geschwieg denn Lesemotivation. Die zusätzliche Lektüre von Kinderbüchern hilft da enorm.
o In einem aktuellen »Zeit«-Interview sagt Ihr Schriftsteller-Kollege Andreas Steinhöfel, dass es heute keine Rolle mehr spiele, ob ein Buch ästhetisch oder seelisch bereichere. Das lesende Kind sei ein Wert an sich geworden. Sehen Sie das auch so kritisch?
14% der Fünfzehnjährigen in Deutschland können laut letzter PISA-Studie nicht sinnentnehmend lesen, ihre Zukunft ist damit vorprogrammiert. Nach offiziellen Zahlen gibt es in Deutschland über 7 Millionen funktionale Analphabeten. Das sind sicher ausnahmslos Menschen, die niemals ein Buch zum Vergnügen gelesen haben. Da ist es mir zunächst mal eher gleichgültig, welche Bücher ein Kind zum Lesen „anfixen“ und zumindest so lange zum Leser machen, bis es eine vernünftige Lesekompetenz erworben hat! – Die Erfahrung zeigt, dass auch Kinder, die mit dem Trivialsten anfangen, dadurch schließlich zu anspruchsvolleren Texten finden können. (Mit den anspruchsvolleren Texten anfangen können sie aber nicht.) Ich z.B. bin als Kind Kilometer weit zu Fuß gegangen, um mir „Fünf Freunde“ und „Karl May“ auszuleihen. Durch solche Bücher ist bei mir eine wilde Lesebegeisterung entstanden, und dadurch bin ich dann später auch zu anderen Büchern gekommen.
o Wenn nicht, ist es dann also egal, was Kinder lesen Comic, Manga, Handbuch für den PC oder »Sagen des klassischen Altertums« Hauptsache sie lesen?
Um die Lesefähigkeit aufzubauen und zu stabilisieren, erst mal ja. Sobald dann eine ausreichende Lesekompetenz besteht, würde ich aber jedem Kind wünschen, dass es auch zu erzählenden Texten findet, weil bei deren Lektüre einfach sehr viel im Kopf des Lesers passiert, was beim „Handbuch für den PC“ nicht zu erwarten ist. Andere Formate dürfen ihm aber gerne weiterhin Spaß machen, je vielfältiger, desto besser!
o Was möchten Sie Kindern und Jugendlichen mit Ihren Büchern vermitteln?
Zunächst mal Freude am Lesen. So sehr ich auch gute Filme schätze, weiß ich doch, dass beim Lesen im Kopf des Lesers noch etwas anderes passiert (sonst würden wir ja Bücher neben den anderen Medien gar nicht mehr brauchen): Dass der Leser sich nämlich eine ganze lebendige Welt nur aus kleinen schwarzen Zeichen aufbaut, kann nur deshalb funktionieren, weil er immerzu auf die eigene Erfahrungen und Gefühle zurückgreift. Das führt zu einer unglaublichen emotionalen Intensität. – Inhaltlich möchte ich ganz viel und von Buch zu Buch ganz Unterschiedliches vermitteln: Mut, sich in der Welt zurechtzufinden. Den Optimismus, dass das auch klappen kann, egal wie klein man sich selbst fühlt oder von anderen wahrgenommen wird. Freude am Leben. Gerechtigkeitssinn auch wenn das alles nach ziemlich viel Pathos klingt. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, schreibe ich eigentlich selten mit einem didaktischen Anliegen (auch wenn ich überhaupt nichts dagegen habe, wenn Bücher so wirken!), sondern einfach, weil ich so viel Spaß daran habe.
o Was zeichnet ein gutes Kinderbuch aus?
Es muss Kinder erreichen. Fast alles andere ist verhandelbar, je nachdem, wo man seinen Schwerpunkt setzt. (Dabei kann es um ästhetische Aspekte gehen oder eher um pädagogische, und das beides geht häufig auch nicht gut zusammen.) Denn wenn ein Buch die Leser kalt lässt, sie langweilt, dann können weder Pädagogik noch Ästhetik wirken.
o Gibt der Deutsche Jugendliteraturpreis einen Anhaltspunkt für gute Literatur? Steht hier nicht häufig eine Bildungsabsicht im Vordergrund, die zwar bei Eltern aber nicht bei Kindern und Jugendlichen gut ankommt?
Das ist von Jahr zu Jahr und von Sparte zu Sparte unterschiedlich und manchmal eine Gratwanderung. Aber ich finde es doch enorm wichtig gerade, nachdem ich betont habe, dass es mir zunächst mal gleichgültig ist, welche Bücher Kinder als Leser „anfixen“ durch den Preis auch solche Bücher ins Bewusstsein zu heben und ihnen Wertschätzung zu zeigen, die vielleicht gerade wegen ihrer ästhetischen Qualität, ihres hohen Anspruchs nicht so marktgängig sind. Diese Bücher brauchen ja dringend Unterstützung, wenn wir uns wünschen, dass sie dann zur Verfügung stehen sollen, wenn ein Leser einmal so weit ist, auch sie zu lesen.
o Ein weiteres gut gemeintes Leseangebot von Erwachsenen ist die Schullektüre. Sie allerdings verleidet vielen Jugendlichen das Lesen fürs ganze Leben. Was läuft hier schief?
Ich bin da gar nicht so pessimistisch: Für viele Kinder, die eher „buchfernen“, schafft die Schullektüre ja überhaupt den einzigen Zugang zum Buch. Ohne Schullektüre nähmen sie nie ein Buch in die Hand. Für andere, die zwar lesen, aber sich immer nur in einem eingegrenzten Spektrum von Literatur, einem einzigen Genre vielleicht, bewegen, wird unter Umständen plötzlich eine ganz neue Art von Literatur sichtbar. Wenn etwas schief läuft, dann liegt es eher an der Art des Unterrichts, am „Zerreden“. Da müssen Lehrer sehr aufpassen. Andererseits genießen Kinder es aber auch, sich mit anderen über Bücher auszutauschen wie über Computerspiele oder Filme. Das passiert ja in der Freizeit sonst eher selten, weil nicht so viele Kinder dasselbe Buch lesen.
o Die Mitte bricht nicht nur in der Gesellschaft weg, sondern offensichtlich auch bei jungen Lesern: Es gibt wenige Vielleser und viele, die keine Bücher mehr anrühren. Wie muss Leseförderung aussehen, um auf breiter Front Lust auf Lesen zu machen?
Wenn das so einfach wäre! Je länger ich mich mit dem Thema beschäftige, desto stärker glaube ich, dass ein ganz, ganz früher Kontakt mit Büchern, möglichst vor dem mit anderen Medien, wichtig ist: Dass also schon ganz kleine Kinder mit ihren Eltern und in der Kita den Reiz von Büchern kennen lernen. Filme, Computerspiele, überhaupt die Möglichkeiten der elektronischen Medien sind so kraftvoll jeder von uns hat das selbst erlebt – dass sie Kindern oft vollkommen ausreichen, wenn sie nicht auch durchs Zuhören schon die Erfahrung gemacht haben, wie viel Spaß Geschichten machen können. Wenn Kinder ihre ersten Bücher erst gleichzeitig mit dem (hochkomplizierten, anstrengenden) Lesenlernen kennen lernen, ist es oft zu spät. – Die Leseförderung müsste also eigentlich bei den Eltern ansetzen und ihnen deutlich machen, wie viel Spaß das gemeinsame Büchergucken und vorlesen machen kann und was es für ihre Kinder bedeutet.
o Was erwarten Sie in diesem Zusammenhang von der Buchrallye, die Studierende des Department Information der HAW Hamburg derzeit aus Anlass Ihres 30-jährigen Jubiläums als Schriftstellerin beim Oetinger-Verlag als deutschlandweites Projekt zur Lesemotivation auf die Beine stellen?
Die Rallye ist ja so angelegt, dass sie witzig und spannend ist und vor allem Spaß machen soll, und das haben die Studierenden auch hervorragend hingekriegt, finde ich. Gerade für Kinder, die bis dahin nicht so viel Kontakt mit Büchern gehabt haben, oder höchstens mit Schulbüchern, höchstens in der Schule, und für die Bücher damit immer nur Gegenstände von Anstrengung waren, kann durch die Rallye vielleicht ein anderes Bild von Büchern entstehen, eine Neugierde. Und wenn diese Kinder eine Bibliothek durch die Rallye kennen lernen, dann erscheint sie ihnen vielleicht als vergnüglicher Ort, den sie auch sonst ruhig mal aufsuchen könnten, nicht primär als Fortsetzung der Schule. Das nützt dann gerade solchen Kindern, die sonst nicht automatisch eine Bibliothek aufsuchen würden.
o Öffentliche Bibliotheken verstehen sich als die Leseförderer im Land. Was machen sie richtig? Was können sie noch verbessern?
Großartig finde ich, dass viele Bibliotheken sich immer mehr öffnen, dass sie auch andere Medien zur Verfügung stellen (und so auch für neue Zielgruppen attraktiv werden, die dann vielleicht doch auch mal ein Buch mit nach Hause nehmen), dass es die Onleihe gibt, dass Bibliotheken mit Schulen und Kitas kooperieren und ihnen ganze (thematische) Medienpakete oder Klassenbüchereien zur Verfügung stellen, und dass sie die unterschiedlichsten Veranstaltungen anbieten. Bibliotheken haben ja schon längst nicht mehr nur die Aufgabe, Lesern Bücher zur Verfügung zu stellen, das wäre die „Pflicht“ aber die „Kür“ ist m.E., wenn sie es auch schaffen, Nicht-Leser ein bisschen näher ans Buch heranzuführen. – Es ist ja abzusehen, dass die Aufgaben der Bibliotheken sich durch die rasende Entwicklung der unterschiedlichsten Medien permanent verändern werden. Sich darauf einzustellen ist sicher schwierig, ich sehe aber an sehr vielen Bibliotheken eine erstaunlich große Bereitschaft und einen hohen Stand der Information.
o Trotz aller Unkenrufe in Sachen Lesen und junge Menschen: Bei Kinder- und Jugendbüchern erleben wir eine wahre Titelflut. Wie passt das zusammen und wie können sich Kinder und Eltern hier orientieren?
Je mehr Titel ein Verlag auf den Markt bringt, desto mehr kauft der Buchhändler, so die Hoffnung, dann auch ein. Daher die vielen Titel. Und: Nicht alles, was gekauft wird, wird dann ja auch gelesen: Vor allem im Grundschulalter steckt hinter Buchkäufen häufig die ja erfreuliche – Hoffnung und der Versuch der Eltern, Großeltern und Tanten, ein Kind überhaupt zum Leser zu machen, weil die Bedeutung des Lesens z.B. für den Schulerfolg inzwischen immer bekannter wird. Aber Verkaufszahlen sagen ja noch lange nichts über Lesehäufigkeit. Die Orientierung wird durch die große Zahl der Neuerscheinungen natürlich immer schwieriger. Offenbar spielt für potentielle Leser hier zunehmend weniger die qualifizierte Beratung (z.B. in der Buchhandlung oder Bibliothek) eine Rolle und mehr Quellen wie Beurteilungen im Internet oder Mund-zu-Mund-Empfehlungen.
o Erfolgversprechende Kinderbücher werden immer schneller kommerziell ausgeschlachtet: Audioversion, Film, PC-Spiel bis hin zu Merchandising-Gimmicks wie Schulranzen oder Teetasse. Gehen Sie angesichts der bunten Medienvielfalt inzwischen anders an die Entwicklung eines Buches heran als zu Beginn Ihrer Karriere?
Zumindest nicht bewusst. Unglücklicher- (oder glücklicher-)weise kann ich überhaupt nur schreiben, wenn mich ein Thema oder ein Stoff ganz persönlich reizt, aus welchem Grund auch immer. Und bei ganz vielen Büchern weiß ich doch von vorn herein und schon beim Schreiben, dass sie für die Umsetzung in andere Medien nicht geeignet sind soll ich deshalb darauf verzichten sie zu schreiben?
o Der Einfluss elektronischer Medien auf Kinder ist umstritten. Macht es Ihrer Meinung nach einen Unterschied, ob ein Kind Ihre Möwenweg-Geschichten hört, liest oder als Film sieht?
Ja, natürlich. Der Buch- und Hörbuch-„Möwenweg“ ist in meinem Kopf immer ganz und gar mein eigener: Ich muss ihn mir aus meinen eigenen Vorstellungen zusammensetzen. Im Film dagegen ist er visuell schon fertig, darum klagen ja so viele Leser über Verfilmungen, die ihnen ihre eigene Geschichte im Kopf kaputt machen. – Andererseits gibt es auch viele Kinder, die durch einen Film überhaupt erst zu einem Buch greifen auch da gibt es ja Erfahrungswerte.
o Würden Sie die Möwenweg-Geschichten auch als PC-Spiel herausgeben?
Ja, wenn das ein zu den Geschichten passendes, also nicht brutales, nicht allzu schnelles, eher freundliches Spiel wäre, das einfach nur in einem anderen Format umsetzt, was auch die Geschichten in den Büchern ausmacht. So ein Spiel würde aber vermutlich nicht so viele Käufer finden, das weiß jeder Spiele-Produzent. Er würde sich davon keine allzu großen Zahlen versprechen, und da die Entwicklung von Computerspielen sehr teuer ist, muss man sich um ein „Möwenweg“-Spiel wohl keine Gedanken machen.
o Zuhause können Eltern einen geschützten Raum schaffen doch früher oder später werden Kinder mit der Medien- und Technikwelt konfrontiert. Wie kann man Kinder darauf vorbereiten?
Indem man sie zu Buch-Interessierten macht, schon bevor sie den anderen Medien begegnen. Das heißt, dass sie durch viel Vorlesen schon gelernt haben, eigene Bilder im Kopf zu entwickeln und nicht nur auf Bilder von außen angewiesen sind. Kinder werden in ihrer Freizeit immer dasjenige Medium auswählen, das den größten Reiz auf sie ausübt, da helfen pädagogische Ermahnungen nicht so furchtbar viel. Und sämtliche neuen Medien sind enorm kraftvoll, sie üben einen sehr großen Reiz aus, auch auf Kinder, die gerne lesen. Aber diese Kinder möchten Bücher deswegen dann trotzdem nicht mehr aufgeben, weil sie erfahren haben, was in ihrem Kopf beim Lesen noch anderes passiert als beim Spielen oder Angucken. (Ich kriege immer wieder Post von Kindern und sogar Jugendlichen, die bitten, ein bestimmtes Buch nicht verfilmen zu lassen, damit es ihnen nicht „kaputt gemacht“ wird.)
o Welche Rolle haben Bibliotheken in Ihrem Leben gespielt?
Ich habe meine erste öffentliche Bücherei mit zehn Jahren entdeckt, und das hat mein Leben geradezu umgekrempelt auch wenn es dort damals nur „das gute Buch“ gab und „Schmutz und Schund“ (also z.B. Enid Blyton, Karl May und Ähnliches) in den Regalen nicht existierten. Viele Jahre lang bin ich regelmäßig einmal pro Woche mit der größten Einkaufstasche meiner Mutter zur Bücherei gegangen. Da habe ich dann Stapel von Büchern aufgetürmt und sie alle angelesen, um zu entscheiden, welche Bücher den Zuschlag kriegen sollten. Ich habe die Besuche in der Bücherei geliebt.
o Schriftsteller haben häufig ein sehr emotionales Verhältnis zu Bibliotheken. Was ist für Sie das Besondere an Bibliotheken?
Die ungeheuerliche Verheißung! Beim Anblick der Regale das Gefühl, dass da noch so viel auf mich wartet, was ich in meinem Leben ganz sicher nicht mehr alles lesen kann. Da beschleunigt sich bis heute mein Puls.