2012
„Spröde, sperrig, kompliziert.“
Interview im Rahmen des Geschichtslesesommers der Universität Gießen
Ein Interview mit Kirsten Boie über Möglichkeiten und Grenzen literarischer Gestaltung von historischer Erfahrung.
Monika Rox-Helmer: Frau Boie, die Internet-Präsenz des Oetinger-Verlags stellt Sie mit folgenden Worten vor: „Zwei Dinge sind Kirsten Boie beim Schreiben besonders wichtig: Zum einen, dass Literatur für Kinder immer auch Literatur sein sollte; zum ande-ren, dass darüber nicht vergessen wird, an wen sie sich richtet, dass sie also Literatur für Kinder ist.“ Dem folgt ein Ausspruch von Ihnen: „Bei dem Spagat zwischen beiden Anforderungen rutsche ich sicherlich einmal manchmal mehr zur einen, einmal zur anderen Seite hin aus. Aber hier die richtige Balance zu suchen ist es gerade, was das Schreiben für Kinder für mich so aufregend macht.“ Wie schaffen Sie den Spagat, der hier angesprochen ist?
Kirsten Boie: Ich verlasse mich auf meine praktischen Erfahrun-gen, die ich im Lauf der Jahre mit Kindern verschiedener Entwicklungsstufen sammeln konnte, und verbinde diese mit meinen li-terarischen Erfahrungen und Kenntnissen. Die Verarbeitung des Materials, das ich recherchiert habe, zu einer Erzählung wird im Arbeitsprozess aber doch auch entscheidend vom Unterbewusst-sein beeinflusst.
Rox-Helmer: Bei Historischen Jugendromanen kommt noch eine weitere Schwierigkeit dazu, nämlich der Anspruch, historisch korrekt erzählen zu wollen. Wie schätzen sie diese spezifische Schwierigkeit beim historischen Erzählen für Kinder- und Jugendliche ein?
Boie: Es macht einen Unterschied, über welche Zeit man schreibt. Tatsächlich scheint mir die jüngere Vergangenheit schwieriger zu vermitteln, als lange zurückliegende Epochen. Einer meiner Histo-rischen Jugendromane, Alhambra von 2007, spielt 1492. Einen solchen Text zu verfassen, ist für mich als Autorin ein völlig anderes Unternehmen als ein zeitgeschichtliches Thema zu behan-deln. Wenn ich über 1492 schreibe, dann schreibe ich ja nur über Dinge, die ich überhaupt nicht erlebt habe und über die es keine zeitgenössischen Filme oder Tondokumente gibt. Da muss man zunächst einmal ordentlich recherchieren, dann aber auch die ei-gene Phantasie kräftig spielen lassen. Ein solches Buch schreibe ich völlig anders, als eine Geschichte, die zur Zeit meiner eigenen Kindheit spielt. Bei letzterem tauchen bei mir sofort Fotografien, Fernsehbilder, Liedtexte, Sprachfetzen, Gerüche und andere im Gedächtnis gespeicherte Eindrücke auf. Diese Dinge im Kopf wir-beln beim Schreiben dann oft durcheinander und wenn beim Schreibprozess eigene Erinnerungen und Erfahrungen hinzukom-men, wirkt sich das wiederum auf die Form aus.
Norman Ächtler: Wie haben wir uns das bei Ringel, Rangel, Rosen vorzustellen?
Boie: Ich bin einerseits ziemlich diszipliniert, was Recherche und Konzeption eines Romans anbelangt. Andererseits bin ich über-zeugt, dass das, was im Schreibprozess passiert, nicht vollständig vorgeplant sein sollte. Es ist für einen Erzähltext schon entschei-dend, dass da spontan noch eine ganze Menge passiert, die Dinge mich selbst überraschen. Ich glaube, all das, was an Unbewusstem zu Tage gefördert wird, ist es, was einen Roman erst lebendig macht. Bei Ringel, Rangel, Rosen zeigt sich das Wechselspiel von subjektiven Erinnerungen und literarischer Form z.B. an der Mak-rostruktur. Der Roman besteht aus drei Teilen, die jeweils unter-schiedlich geschrieben sind. Der erste Teil, „Das Paradies“, be-schreibt die kleinbürgerliche Idylle, in der die Hauptfigur Karin vor der Flutkatastrophe aufwächst, in chronologischer Ordnung und sprachlich klar. Der zweite Teil „Die Vertreibung“ fokussiert die Ereignisse während der Sturmflut. Dem sollte die Form entspre-chen, deshalb werden Karins Erfahrungen in permanentem Wechsel der Erzählebenen vermittelt, Erinnerungsfetzten gehen mit der Erzählzeit im Auffanglager hier durcheinander. Unterstri-chen wird ihre innere Aufwallung durch unvollständige Sätze und ähnliche sprachliche Merkmale. Der dritte Teil wird nochmal an-ders erzählt. Er setzt nach einem Zeitsprung an. Karin memoriert hier während des Beerdigungsgottesdienst für Oma Domischkat in längeren Rückblenden das vergangene Jahr seit der Flut. Der Ton ist gegenüber dem ersten Teil viel pessimistischer. In dem Buch gibt es also keinen einheitlichen Ton, weil alle drei Abschnitte inhaltlich wie vom geistigen Miterleben her für mich so unterschiedlich waren.
Rox-Helmer: Interessant ist, was Sie für ein Bild von den 1960er Jahren im Roman entwerfen und wie Sie das ausgestalten. Dies geschieht über viele kleine historische Andeutungen, die aber nicht weiter erläutert werden. Ein Beispiel wäre die Anspielung auf den „Internationalen Frühschoppen“ mit Werner Höfer. Karin sitzt mit ihrem Vater im Wohnzimmer und der Vater repariert ein Bü-geleisen, während im Fernsehen über den Mauerbau diskutiert wird. Der „Internationale Frühschoppen“ war damals eine allge-mein bekannte Sonntagmittagssendung,die heutigen Jugendlichen aber sicherlich kein Begriff mehr ist. Warum belassen sie es wie an dieser Stelle meist bei Anspielungen?
Boie: Vieles, was an historischen Details in den Roman eingeflos-sen ist, ergab sich beim Schreiben. Der Internationale Frühschop-pen wurde damals, als es nur ein Fernsehprogramm gab, eben bei vielen geguckt. Das ist ein wichtiger Bestandteil der Zeit, den ich persönlich erinnere. Deshalb wollte ich die Sendung drin haben. Aber ob man das nun nennt oder nicht, das fand ich nicht so wichtig.
Ächtler: Wobei man schon sagen kann, dass Sie Ihren jugendli-chen Lesern mit Ringel, Rangel, Rosen einiges zumuten. Einerseits vermitteln Sie etwas von der Stimmung, von der Lebenswelt der 1960er Jahre, andererseits und das wäre einer der großen Un-terschiede zu Monis Jahr, wo es noch erläuternde Annotationen gibt kommen die Realia, die die Romanwelt konstituieren, ohne jede Erklärung aus. Darüber hinaus werden diese aus der kindli-chen Perspektive der Protagonistin und damit in nochmals ge-brochener Form weitergegeben. Ist diese Indirektheit der histori-schen Vermittlung bewusst intendiert?
Boie: Wie gesagt, sind viele zeitspezifische Details zunächst ein-mal subjektive Erinnerungsschnipsel gewesen, die mir unmittelbar beim Schreiben gekommen sind. Alles in allem ist es mir bei Ringel, Rangel, Rosen gar nicht so wichtig gewesen, konkret historisches Wissen zu vermitteln. Das hätte ich anders gemacht, dann hätte ich sehr viel konventioneller erzählt. Viele Dinge die nicht selbsterklärend sind, müssen dann in der Tat richtig ausführlich behandelt werden, man muss mit Fußnoten oder mit einem Anhang arbeiten. Anders geht das nicht. Bei Ringel, Rangel, Rosen ist es mir sehr viel weniger um die konkreten historischen Ereignisse des Jahres 1961 gegangen, als um die Atmosphäre der Zeit, um das Bewusstsein der Jugendlichen dieser Zeit und darum, wie dieses Bewusstsein durch die Entdeckung der bis dahin verschwiegenen Verstrickung der Elterngeneration in Nationalsozialismus und Holocaust geprägt wurde.
Rox-Helmer: Damit spielen sie auf eine Schlüsselerfahrung ihrer Generation an.
Boie: Genau diese Kernerfahrung wollte ich vermitteln. Jugendli-che von heute sind immer wieder überrascht, wenn ich ihnen er-zähle, dass bis weit in die 1960er Jahre hinein das Sprechen über die deutschen Verbrechen ein gesellschaftliches Tabu war. Die sa-gen dann: „Das kann doch gar nicht sein, dass die Hauptfigur mit Dreizehn überhaupt noch nie davon gehört hat. Wir wären dank-bar, wenn wir in der Schule nicht so viel davon hören müssten.“ Aber so war es natürlich. Als ich in dem Alter war, in dem sich meine Protagonistin Karin befindet, hatte ich praktisch noch nichts vom Holocaust gehört. Die 1950er Jahre waren die Zeit des Wirtschaftswunders. Wenn die Menschen sich mit dem Krieg aus-einandergesetzt haben, dann mit den eigenen Leidenserfahrun-gen, mit den Bomben auf die Städte. Die Shoa konnte auch des-halb nicht thematisiert werden, weil das die Menschen enorm be-lastet hätte, die mit dem Wiederaufbau beschäftigt waren. Deshalb haben sie das soweit verdrängt, wie sie konnten. Außerdem saßen in vielen Bereichen von Wirtschaft und Politik Leute auf Spitzen-positionen, die schon während des Nationalsozialismus hohe Funktionen bekleideten. Man konnte das Land ja nicht leer räu-men. Das heißt es gab niemanden, der ein Interesse daran gehabt hätte, dieses Kapitel aufzuarbeiten.
Ächtler: Die Aufarbeitung des Holocaust in Deutschland ist ja ü-berhaupt erst mit dem Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 rich-tig ins Rollen gekommen, dem sie auch in Ihrem Roman eine wichtige Bedeutung beimessen.
Boie: Der Eichmann-Prozess ist damals weltweit im Fernsehen ü-bertragen worden. Dem konnte man sich in Deutschland nicht mehr verschließen. Zu der Zeit gab es bei uns bereits eine gewisse TV-Gerätedichte, aber eben nur ein Programm. Dadurch schwappte dieses Thema plötzlich über uns zusammen. Durch den Eichmann-Prozess haben viele aus meiner Generation zum ersten Mal vom Holocaust wirklich gehört. Man muss sich vor-stellen, was das für uns Jugendliche bedeutet hat, als wir uns plötzlich damit konfrontiert sahen, dass unsere Eltern in so einer Zeit gelebt und nichts gegen die Verbrechen getan, womöglich sogar mitgemacht hatten. Diese Entdeckung war für Menschen meiner Generation unglaublich prägend. Man kann sich vieles aus der weiteren deutschen Geschichte daraus erklären; die spezifi-sche Form, wie die 68er-Revolte bei uns abgelaufen ist, hat zum Beispiel ganz eng damit zu tun. Und genau darum geht es mir im Roman: diese Entdeckung zu vermitteln, dass die eigenen Eltern in irgendeiner Form verwickelt waren in die Vorgänge zur Zeit des Nationalsozialismus.
Rox-Helmer: Wobei es im Roman ja zu keinen wirklich schreckli-chen Enthüllungen kommt. Karin kann ja aufgrund der kompro-mittierenden Unterschriften zu den fehlenden Kriegsbildern im Familienalbum nur Vermutungen anstellen. Und es geht ja offen-sichtlich um Episoden aus dem Partisanenkrieg
Boie: Es ging für viele von uns ja nicht um die Erkenntnis: „Oh Gott! Mein Vater hat ein KZ geleitet!“ Deshalb habe ich auf eine Ü-berdramatisierung verzichtet. Ich wollte das erzählen, was mehr oder weniger jeder erfahren hat, der so alt ist wie ich: meine El-tern haben in einem verbrecherischen System gelebt, sie haben nichts dagegen getan und das mit dem Krieg war vielleicht doch nicht immer so ganz harmlos. Die Väter haben eben nicht nur zurückgeschossen, weil der böse Ivan zuerst geschossen hat.
Ächtler: Ein Motiv, das sich durch den Roman zieht ist das Ver-weigern bzw. die Unfähigkeit zur Kommunikation. Zunächst und vor allem sind es die Eltern, die die Auseinandersetzung scheuen und über Karins Fragen einfach hinweggehen
Boie: Diese Art des Verschweigens ist es gewesen, die in den Fa-milien das Thema bestimmt hat und zwar zum Teil über Jahr-zehnte. Dabei ging es in den meisten Fällen, wie gesagt, nicht um dramatische Dinge. Auch Karins Eltern sind ja nicht extrem schul-dig geworden. Aber trotzdem ist bei den Zeitzeugen ein Schuld-gefühl da und führt zu der Unfähigkeit, über die eigenen Erfah-rungen zu sprechen. Und das zieht sich durch die deutsche Ge-sellschaft. Selbst als dann überall öffentlich über den Holocaust gesprochen worden ist, also eben seit Beginn der 1960er Jahre bis zu einem ersten Höhepunkt in den 1970ern, hat das in den Fa-milien nicht wirklich was aufgebrochen. Da ist das Schweigen weiter gegangen.
Ächtler: Eine der für mich interessantesten Facetten des Romans ist dann Karins Unfähigkeit, über die eigene traumatische Erfah-rung zu sprechen. Im dritten Teil verlangt die Mutter immer wie-der von ihr, sie solle dem Vater erzählen, was sie erlebt haben während der Flutkatastrophe. Karin aber kann das nicht, sie sitzt da und schweigt. Plötzlich befindet sie sich in einer ganz ähnli-chen Situation wie die Eltern: etwas Schreckliches mitgemacht zu haben, aber nicht darüber sprechen können.
Boie: Wobei ihr selbst das natürlich nicht bewusst ist; es dient Ka-rin deshalb auch an keiner Stelle als Entschuldigung für das Ver-halten der älteren Generation. Aber dem Leser macht Karins psy-chische Verfassung die Verweigerungshaltung ihrer Eltern viel-leicht ein bisschen verständlicher. Es geht nicht um Rechtferti-gung, aber die Frage steht schon, wie die Generation des „Dritten Reichs“ sich anders hätte verhalten sollen, gerade ihren Kindern gegenüber. Ich glaube, das war für diese Menschen eine äußerst schwierige Situation, als die Medien verstärkt begannen, den Nati-onalsozialismus aufzugreifen. Dadurch wurden sie gezwungen ü-ber all das nachzudenken, was sie fünfzehn Jahre lang verdrängt hatten. Und dann kamen auch noch die eigenen Kinder und be-gannen, Fragen zu stellen. Vor allem am Verhalten der Mutter, a-ber auch z.B. der Oma Domischkat, wird im Roman deutlich, dass vor allem Frauen und die Hitlerjugend-Generation sich selbst in erster Linie als Opfer des Kriegs empfunden haben. Ursachenfor-schung ist in so einer mentalen Lage ein komplexer gedanklicher Prozess, ebenso wie der Versuch, etwas zu erklären, das offenbar nicht vermittelbar ist. Immer wieder scheitert das Gespräch zwi-schen Karin und ihrer Mutter ja an der Aussage: „Das könnt ihr ja gar nicht verstehen, wie das war!“ Eine Stigmatisierung meiner El-terngeneration war also gewiss nicht meine Intention, auch wenn die subjektive Erzählhaltung zu einer solchen Lesart einlädt.
Ächtler: Im dritten Teil kommt noch ein weiteres Mal das Motiv des Schweigens bzw. Verschweigens ins Spiel. Karin lernt auf dem Gymnasium Sigrun kennen, deren Vater „Halbjude“ ist. Nachdem Sigrun das Familiengeheimnis preisgegeben hat, kommt es zu ei-nem Bruch zwischen den beiden Freundinnen, weil das Thema Holocaust im Raum steht, aber beide, so heißt es, nicht darüber reden dürfen bzw. können.
Boie: Das Schweigen hat ja nicht nur bei den Deutschen vorge-herrscht, sondern auch bei den jüdischen Opfern. Das wird gerade jetzt, da die letzten Zeitzeugen verschwinden, immer deutlicher. Das ist inzwischen ein dominantes Thema in der jüdischen Gegenwartsliteratur. Auch bei den Opfern gab es die Sehnsucht nach Normalität, die zu einem Verdrängen und Verschweigen führte. „Wenn unsere Nachbarn erfahren, wer wir sind“, sagt Sigrun, „dann kaufen die doch nicht mehr bei uns ein.“ Es gibt übrigens ein Vorbild für die Figur der Sigrun aus meiner eigenen Biographie. Die „reale“ Sigrun hat sich mir allerdings erst offenbart, als wir beide fünfzig waren, und zwar weil sie es selbst erst zu diesem Zeitpunkt von ihrer Mutter erfahren hatte. Auch in diesem authentischen Fall argumentierte die Mutter: „Ich wollte dir nicht dein Leben zerstören, du solltest nicht immer damit belastet sein. Ich wollte, dass du dich ganz normal fühlen kannst.“ Wenn Dinge passieren, die derartig furchtbar sind wie die Judenverfolgung, dann belasten sie noch Generationen hinterher.
Rox-Helmer: Reichen die autobiographischen Elemente, die in den Roman eingeflossen sind, dazu aus, Ringel, Rangel, Rosen als autobiographisch fundiert zu bezeichnen?
Boie: Autobiographisch ist nur die Zeiterfahrung, die ich vermit-teln möchte. Die Familienkonstellation des Romans spiegelt die Auseinandersetzung zwischen meiner Generation und ihren Eltern in typischer Weise wider. Damit sind die persönlichen Bezüge weitgehend erschöpft. Mit der Hamburger Sturmflut wurde ich nur indirekt konfrontiert. Wir hatten Verwandte in Wilhelmsburg. Ich habe mit meinem Vater damals Kleidung und Wolldecken in Auffanglager für die Betroffenen gebracht. Ein Jahr später ist über uns eine Familie mit vier Kindern eingezogen, die die Sturmnacht auf dem Dach verbracht hatte. Die Handlung ist also völlig fiktiv, ich habe nichts von alldem selbst erlebt.
Rox-Helmer: Was hat Sie dazu veranlasst, die verweigerte Aufar-beitung des Nationalsozialismus in der frühen Bundesrepublik mit der Hamburger Sturmflut zu kombinieren?
Boie: Das hat mir einfach die historische Wirklichkeit vorgegeben. Der Eichmann-Prozess als Auslöser für eine verstärkte Kommuni-kation über die NS-Verbrechen fällt zeitlich mit der Hamburger Flut zusammen, ich habe die Ereignisse selbst mitbekommen. Da war die Möglichkeit, beides zu verknüpfen, naheliegend. Natürlich ist damit auch eine symbolische Verbindung intendiert. Dem Text wurde verschiedentlich vorgeworfen, es sei metaphorisch ein bisschen dick aufgetragen, Karins Entdeckung mit einer sintflut-artigen Vertreibung aus dem Paradies gleichzusetzen. Dieser Vor-wurf trägt aufgrund der zeitlichen Parallelität der Ereignisse mei-nes Erachtens aber nur sehr bedingt.
Ächtler: Wäre das spezifisch Historische dieses Jugendromans we-niger in den geschichtlichen Fakten zu suchen, als vielmehr im Versuch, eine inzwischen historisch gewordene Mentalitätslage einzufangen, Mentalitätsgeschichte zu schreiben?
Boie: Diese Formulierung übernehme ich sofort. Ich denke das trifft den Kern meines Anliegens. Sonst hätte ich die Geschichte ganz anders erzählt. Was zu dieser mentalitätsgeschichtlichen E-bene allerdings noch dazukommt, ist die Alltagsgeschichtliche. Ich habe gleichzeitig versucht, für Jugendliche den Alltag um 1960 darzustellen mit allem, was so vollkommen anders war als heute. Ich versuchte, mich zu erinnern: Was war denn damals der Alltag eines dreizehnjährigen Mädchens? Welche Konflikte trug man mit seinen Eltern aus? Was war der Medienbestand? Wie sah das Leben des Kleinbürgertums aus? Es ging dabei aber nicht nur um die Unterschiede des materiellen Lebens, sondern eben auch darum, was zwischen den Menschen damals passiert ist.
Ächtler: Entbindet ein mentalitätsgeschichtlicher Ansatz, noch dazu im Romanformat, bis zu einem gewissen Grad von der Pflicht zur historischen Korrektheit bzw. Faktentreue?
Boie: Keinesfalls. Ich denke, wenn man sich schon einlässt auf so ein Genre, dann sollte man auch historisch so korrekt arbeiten, wie es einem möglich ist. Das ist mein Anspruch, auch wenn ich diesen niemals hundertprozentig einzulösen vermag. Fehler kön-nen sich immer einschleichen, auch bezüglich einer Zeit, die ich selbst erlebt habe. Historische Romane prägen doch sehr das Bild einer Zeit, gerade bei Kindern und Jugendlichen. Das ist später schwer wieder korrigierbar. Ich weiß das von mir selbst: Mein Bild von der französischen Revolution und der Zeit danach war z.B. stark geprägt von Annemarie Selinkos Roman Désirée über die Geliebte Napoleons, die später zur Frau des schwedischen Königs wurde. Deren Geschichte fanden meine Freundinnen und ich toll. Mit vierzehn haben wir den Roman leidenschaftlich gelesen. Ob das alles in jeder Hinsicht historisch korrekt geschildert ist, habe ich nie nachgeprüft, aber es ist als geschichtliches Wissen hängen geblieben. Was wir in der Schule gelernt haben, war dagegen schnell wieder vergessen. Deshalb denke ich, man hat als Autorin auch eine gewisse Verantwortung.
Rox-Helmer: Was ist es ihrer Erfahrung nach, was Historische Ro-mane Sachbüchern voraushaben? Gerade mit Blick auf die Schule gibt es inzwischen ja auch spannend geschriebene Sachbücher für Jugendliche.
Boie: Erzählende Literatur kann bestimmte Aspekte von Ge-schichte vermitteln, die sich der Sachliteratur weitgehend entzie-hen. Die Schilderung des Alltagslebens zum Beispiel, oder eben das, was sie eben ‚Mentalitätsgeschichte‘ genannt haben. Das funktioniert vor allem auch dadurch, dass literarische Texte ein Lesen zwischen den Zeilen möglich machen.
Rox-Helmer: Zeitspezifisch ist sicherlich auch die Adoleszenz der Protagonistin Karin. Das macht den Roman interessant mit Blick auf die Adressaten. Meistens ist es in der Jugendliteratur ja so, dass die Protagonisten ein, zwei Jahre älter sind als ihre Zielgrup-pe, um sie attraktiv zu machen. Bei Alhambra kommt das auch ganz gut hin, die Hauptfigur Boston ist vierzehn Jahre alt. Bei Rin-gel, Rangel, Rosen wie bereits bei Monis Jahr haben Sie sich aber für Protagonistinnen entschieden, die deutlich jünger sind als die potentiellen Leser.
Boie: Bei Karin ist das nicht wirklich der Fall. Sie ist zu Beginn des Romans dreizehn und am Ende fünfzehn. Nur wirkt sie aus heuti-ger Perspektive eben sehr jung für dreizehn.
Rox-Helmer: Dieser Eindruck wird u.a. durch Karins noch sehr kindlichen Wortschatz erweckt, etwa dadurch, dass sie von ihren Eltern ständig als von „Vati“ und „Mutti“ spricht, was dem heuti-gen Sprachgebrauch eher fremd ist.
Boie: Gerade über diesen Punkt gab es auch mit meiner Lektorin Diskussionen. Auch diese hat argumentiert, dass dieser Wort-gebrauch die Protagonistin im Bewusstsein heutiger Leser jünger macht, als sie ist. Nur: Wenn man die 1960er Jahre so zeigen will, wie sie waren, dann muss eine Dreizehnjährige eben auch „Mutti“ und „Vati“ sagen, damals hat man nun einmal so geredet. In der Tat ist es so, dass Karin einem für heutige Verhältnisse extrem kindlich vorkommt. Kinder werden heute einfach sehr viel schnel-ler sehr viel reifer. Eine heutige und eine damalige Dreizehnjähri-ge könnten wahrscheinlich gar nichts miteinander anfangen. Aber wenn Literatur von anderen Zeiten handelt, dann muss sie diese Zeiten und ihre Gestalten auch so darstellen, wie sie waren. Dass es deshalb zu Identifikationsproblemen von Seiten der Leser kommen kann, ist dann der Preis, den ich für diese Haltung zahle.
Rox-Helmer: Was war denn ihrer Meinung nach abgesehen von dem langsameren Reifungsprozess das Spezifische von Ado-leszenz um 1960?
Boie: Ein notwendiger Aspekt von Adoleszenz ist ja bis heute, die Eltern vom Sockel zu holen. Aber dieser Ablöseprozess verläuft inzwischen nicht mehr so dramatisch, weil das Eltern-Kind-Verhältnis ein anderes geworden ist. Was damals stattgefunden hat, war dagegen eine totale Zertrümmerung des Elternbilds. Es handelte sich um eine Extremform jenes moralischen Rigorismus, zu dem man in diesem Alter ohnehin neigt.
Ächtler: Was sich bei Karin gerade im Zusammenhang mit dem von ihnen angesprochenen moralischen Rigorismus äußert, sind die sogenannten Größen- und Allmachtsphantasien, die typisch für die Adoleszenz sind.
Boie: Gerade im Alter von Karin neigt man zur Selbstüberschät-zung. Man glaubt, man könnte die Welt retten. Selbstverständlich hätte Karin alle Juden gerettet, wenn sie selbst im „Dritten Reich“ gelebt hätte. Da äußert sie in der Tat typische Pubertäts-Phantasien. Aber dass die Eltern den eigenen moralischen An-sprüchen, die man selber entwickelt hatte, in keiner Weise mehr genügten und damit auch die Notwendigkeit verschwand, sie zu respektieren, dieser scharfe Bruch ist eine ganz spezifische Er-fahrung aus der Adoleszenzphase meiner Generation. Das zu vermitteln, darum ist es mir eben auch gegangen. Dieser Bruch steht im dritten Romanteil im Mittelpunkt.
Rox-Helmer: Mit dem scharfen Bruch, den sie in Ringel, Rangel, Rosen beschreiben, hatten die Schülerinnen, mit denen wir uns ü-ber den Text austauschten, große Probleme. Die konnten mit der sprunghaften Wandlung, die Karin zwischen dem zweiten und dem dritten Romanteil durchlaufen hat, nichts anfangen. Deshalb haben sie Karin auch nicht als Identifikationsfigur wahrgenom-men, sondern sich vielmehr deutlich von ihr distanziert. Eine Schülerbefragung zu ihrem Roman, die ich kürzlich ausgewertet habe, hat diese Rezeptionshaltung bestätigt. Aber ich glaube, beim Lesen muss man derart zwiespältige Charaktere aushalten. Das kann ab einem bestimmten Alter viele Lernprozesse auslösen, vielleicht auch unterstützt durch schulische Vermittlung.
Boie: Der radikale Bruch mit der Elterngeneration ist eine Erfah-rungsdimension, die Jugendliche heute eben nicht mehr haben. Da fällt es ihnen natürlich schwer, das nachzuvollziehen. Da wäre schulische Textvermittlung sicherlich von Vorteil. Im Gegensatz zu vielen Kollegen habe ich auch gar nichts dagegen, wenn meine Bücher in der Schule gelesen werden. Ich bin aber der Meinung, dass solche Lernprozesse schon allein auf Grund einer fortge-schrittenen Leseerfahrung vollzogen werden können. Ringel, Ran-gel, Rosen ist ohnehin ein Buch, das nur für solche Leser zur Pri-vatlektüre geeignet ist, die bereits intensive Leseerfahrung ge-sammelt, Spaß am Lesen auch von schwierigeren Texten und am Entdecken von neuen Erzählformen haben. Bewusst oder unbe-wusst kann man dabei viel mitnehmen. Es setzt aber natürlich viel voraus. Das ist in mancher Hinsicht gewiss auch ein Problem des Romans. Er ist spröde, sperrig und kompliziert geschrieben, aber ich wollte ihn so haben. Was ich zeigen wollte, hätte ich nicht vermitteln können, wenn ich es einfacher geschrieben hätte.
Rox-Helmer: Die Leserschichten von Jugendliteratur sind ja auch weit gespreizt. Die guten Leser, die sich auf das Buch einlassen, erkennen, dass es sich bei dem behandelten Zeitraum um einen historischen Ausschnitt handelt, der deshalb fremd erscheint, können sich aber trotzdem in Epoche und Charaktere hineinden-ken. Das bringen aber nicht alle jungen Rezipienten von vornher-ein mit. Und besonders schwierig wird es sein, sich mit fremden historischen Kontexten und ihren Protagonisten auseinanderzu-setzen, wenn die Protagonisten keine Identifikation bieten.
Boie: Das ist ein Schritt über die ganz konventionell geschriebene Jugendliteratur hinaus, die ja direkt auf die Leser zugeschnitten ist. In konventioneller Jugendliteratur ist das menschliche Be-wusstsein immer völlig gleich. Egal in welchem Jahrtausend, in welchem Kulturkreis, auf welchem Erdteil die Texte spielen, die Charaktere denken und fühlen wie mitteleuropäische Jugendliche der Gegenwart. Das erleichtert zwar die Identifikation mit solchen Figuren, setzt dem, was ich an literarischer Erfahrung machen kann, aber eine ganz enge Grenze. Diese Grenze kann ich nur ü-berschreiten, wenn ich versuche, auch ‚mentalitätsgeschichtlich‘ so authentisch wie möglich zu bleiben, auch wenn das den Lesern zunächst einmal Schwierigkeiten bereiten sollte. Dass ich auf Le-sungen oftmals sehr positive Rückmeldungen von Lesern und Le-serinnen bekommen habe, die gerade einmal um die zehn Jahre alt sind, bestärkt mich in dieser Einstellung.
Ächtler: Verdrängung des Holocaust und Eichmann-Prozess, All-tagsgeschichte des Kleinbürgertums und Hamburger Sturmflut, all dies verbunden mit Problemen des Erwachsenwerdens der Protagonistin die Süddeutsche Zeitung monierte gegenüber Ringel, Rangel, Rosen, der Roman sei überfrachtet mit zu vielen Themen. Wie stellen sie sich zu dieser Kritik?
Boie: Gerade gegenüber der Jugendliteratur gibt es so eine Ten-denz zu verlangen, Thema für Thema separat zu behandeln. Das sähe dann so aus: zuerst schreibt man ein Buch über den Holo-caust, dann schreibt man eins darüber, wie Jugendliche in den 1960er Jahren mit diesem Problem umgegangen sind, und zu guter Letzt schreibt man eins über die Hamburger Sturmflut. Das erscheint mir aber oft so lebensfremd. Im Leben kommen die Din-ge doch auch zusammen. In der spezifischen Situation um 1960 konnte es eben durchaus passieren, dass junge Menschen, die gerade in der Pubertät waren und ohnehin Schwierigkeiten mit ihren Eltern hatten, zusätzlich durch die aufbrechende Vergan-genheitsproblematik aufgewühlt wurden. Und wenn diese Krise von einem Hamburger Mädchen im Jahr 1961 durchlaufen wurde, kam die Flut als Naturereignis eben noch oben drauf. Das ist in meinen Augen keine Überfrachtung, sondern ein realistischer Querschnitt durch ein bestimmtes Jahr. Und ich denke, solange sich diese Ereignisse und Problemfelder in der Romangeschichte nicht im Wege stehen, sondern sich gegenseitig beleuchten und intensivieren, das eine dazu beiträgt, das andere voranzutreiben, dann kann man das machen.
Ächtler: Mit Monis Jahr hatten sie bereits einen Roman vorgelegt, der die Zeit ihrer Kindheit behandelt, es geht um das Jahr 1955. Monis Jahr ist aber weit weniger komplex geschrieben als Ringel, Rangel, Rosen. Was hat sie zu dieser wie sie selbst sagen wo-möglich problematischen Ausreizung auch der poetologischen Grenzen des Jugendromans veranlasst? Im Vergleich kann es ja nicht nur der Ansturm von unbewusst abgespeichertem Selbster-lebten gewesen sein, wie sie vorhin meinten. Den muss es ja be-reits bei Monis Jahr gegeben haben. Warum also z.B. die vielen Zeitebenenwechsel im Mittelteil, die für jugendliche Leser kognitiv noch nicht unbedingt zu fassen sind?
Boie: Ich gehe insofern mit, als es in der Tat einen literarischen Zusammenhang zwischen den Texten gibt. Allerdings auch wenn die Erzählzeit nur sechs Jahre früher angesiedelt ist be-handelt Monis Jahr eine historisch völlig andere Situation und eine ganz andere Thematik. Zur Form: die Form sollte immer dem Thema entsprechen, so wie es in der Belletristik für Erwachsene gehandhabt wird. Gleichzeitig muss man als Autorin immer die Grenzen der jeweiligen Leserschaft im Blick haben. Das Schreiben für Kinder und Jugendliche ist deshalb stets ein Balanceakt. Es gibt sicher eine Reihe von Büchern, bei denen ich die Themen ziemlich schwer verpackt habe. Manchmal habe ich dann einen Text hinterhergeschoben, der eine ähnliche Thematik konsumier-barer vermittelt. Aber zunächst gehe ich davon aus, dass Ju-gendliche grundsätzlich die Fähigkeiten haben, auch schwierige Texte zu verstehen. Insofern ist es ein weiterer Schritt auf dem Weg des literarischen Lernens, ein Gefühl für den Bezug zwischen Inhalt und Form zu entwickeln, dafür dass Literatur ihre Themen immer auch über bestimmte literarische Mittel aufbereitet. Des-halb dürfen Bücher wie Ringel, Rangel, Rosen ab und zu mal sein. Ich bin mir dessen aber bewusst, dass ich es Lesern oftmals schwer mache und manche Texte nicht allen zugänglich sind. Bei Texten für Jugendliche besteht ja immer noch die Hoffnung, dass die Erwachsenen mitlesen.
Ächtler: Bei der Geschichte, die Monis Jahr erzählt, sahen sie also keine Veranlassung ähnlich stark von konventionellen Schreib-weisen abzuweichen?
Boie: Moni ist ja erst zehn Jahre alt, ihr Blick auf die Welt ist ein vollkommen anderer als der von Karin. Mit den aufwühlenden Fra-gen, die Karin beschäftigen, muss Moni sich überhaupt nicht aus-einandersetzen, dafür ist sie noch zu jung. Das tut auch keine an-dere Romanfigur, immerhin befinden wir uns 1955 noch in der Aufbauphase der Bundesrepublik, in der das Aufbrechen der Ver-drängungshaltung der Deutschen noch weit entfernt war. Der der Krieg und der Nationalsozialismus spielen nur eine Rolle als de-terminierendes Element für die persönliche Situation der Protago-nistin. Auch gibt es keine traumatischen Ereignisse, die einer be-stimmten literarischen Vermittlung bedürfen. Der Roman erzählt ein ganzes Jahr, das für die Geschichte der Bundesrepublik einige wichtige Ereignisse gebracht hat, allen voran die Rückholung der letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion durch die Ade-nauer-Regierung. Es ist das Problem der abwesenden, vermissten oder gefallenen Soldatenväter, das die Familienkonstellation des Romans prägt. Es ist jedoch nicht Moni, die ihren Vater gar nicht gekannt hat, die innerlich erregt ist. Die Auseinandersetzung fin-det zwischen ihrer Mutter, die ein neues Leben beginnen möchte, und der Oma statt, die nach wie vor darauf hofft, dass ihr im Krieg gebliebener Sohn noch zurückkommt. Monis kindlicher Blick dient eher dazu, eine neutrale Perspektive auf diese Problematik zu werfen. Moni selbst ist zwar hin und her gerissen zwischen Mutti und Großmutter, sie erlebt in dem Jahr ganz viel und verändert sich auch enorm, aber das geschieht noch ohne die innere Zer-rissenheit und Radikalität der Jugendlichen aus den 1960er Jah-ren, die Karin darstellt. Deshalb ließ sich die Geschichte auch ge-radliniger erzählen.
Rox-Helmer: Inwieweit muss man denn zumindest bei Ringel, Rangel, Rosen von einer Doppel- oder sogar Mehrfachadressiert-heit sprechen? Immerhin scheint der Text ja von einem Leser-spektrum rezipiert zu werden, das von Viertklässlern bis weit ins Erwachsenenalter reicht.
Boie: Also an Kinder habe ich wirklich nicht gedacht, schon aus den genannten formalen Gründen. Kinder können beispielsweise die vielen Rückblenden formal noch gar nicht fassen. Zehnjährige, die den Roman mit Gewinn lesen, müssen bereits über gehörig Leseerfahrung verfügen. Was Jugendliche und Erwachsene betrifft, halte ich eine Menge von Doppeladressierung. Als Jugendbuchautorin muss ich mich bei der Gestaltung eines Texts aber auf die primäre Zielgruppe ausrichten. Ihren kognitiven Fähigkeiten und Wissensbeständen sollte ein Text schon entsprechen soweit man da die Grenze dehnen möchte , sonst ist das eine Mogelpackung. Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn Erwachsene meine Jugendromane und Kinderbücher lesen! Schaut man derzeit in die Erwachsenenbelletristik, dann boomt da im Augenblick die Erinnerungsliteratur zu Kindheit und Jugend. Da passt sich ein Text wie Ringel, Rangel, Rosen gut ein.
Rox-Helmer: Haben Sie sich jemals überlegt, auch für Erwachsene zu schreiben? Dann müssten sie sich mit Fragen der Lesekompe-tenz gar nicht aufhalten.
Boie: Lange Zeit überhaupt nicht. Das hat auch ganz banale Grün-de. Wenn man in einer literarischen Szene erst mal eingearbeitet ist, wird das in gewisser Weise zum Selbstläufer. Es kommen ei-nem immer neue Ideen für Themen, die man für die jeweilige Zielgruppe literarisch aufbereiten möchte. Hinzu kommt, dass ich der Überzeugung bin, dass sich fast jedes Thema für Kinder oder Jugendliche erzählen lässt. Es hängt weitgehend davon ab, auf welche Weise man das macht. Manchmal korrigiert einen zwar die Wirklichkeit und ein Text verschwindet schnell aus den Bücherre-galen, weil er keine Leser findet oder die Leseerfahrungen nur ne-gativ sind. Deshalb stellt sich bei jeder Idee zunächst die Frage: Ist das Thema für Jugendliche überhaupt interessant oder schreibe ich aus Eigeninteresse? An diesem Punkt kann es dann schon mal sein, dass ich mir überlege, ein Buch für Erwachsene zu verfassen. Aber das ist ein Schritt, der ja auch ein Schritt über klar getrennte Spartengrenzen ist, den ich bislang noch nicht gegangen bin.
Ächtler: Dass sie sich aber schon bis zu einem gewissen Grad auf der Grenze zwischen den belletristischen Literatursystemen be-wegen, darauf weisen die Taschenbuchausgaben hin. Im Februar hat Oetinger Ringel, Rangel, Rosen zum 60. Jahrestag der Ham-burger Sturmflut als Taschenbuch herausgebracht, Monis Jahr ist dagegen bei dtv erschienen. Das heißt, dass der schwierigere Text nur in der Jugendbuchabteilung zu finden sein wird, während Mo-nis Jahr aufgrund des Verlags von vornherein für Erwachsene ge-kennzeichnet ist.
Boie: Das ist schon ein wenig paradox, nicht? Tatsächlich bekom-me ich zu beiden Büchern mehr Rückmeldungen von Erwachse-nen. Das mag, wie gesagt, zum Teil daran liegen, dass dieser Le-serkreis die Zeit selbst erlebt hat. Monis Jahr und Ringel, Rangel, Rosen im sogenannten All-Age-Bereich zu verorten, sträube ich mich aber ein wenig. Primär geschrieben habe ich die Romane für Jugendliche.
Rox-Helmer: Karin liest ja auch einen Historischen Roman, Stern-kinder von Clara Asscher-Pinkhof. Durch diese Lektüre wird sie wesentlich dazu angeregt, sich mit der Judenverfolgung im Natio-nalsozialismus zu beschäftigen. Ist dies gewissermaßen als ein selbstreflexiver Fingerzeig gedacht? Aus geschichtsdidaktischer Perspektive liest es sich fast wie eine unterschwellige Hinführung zu Historischer KJL, dass Sie Karins Bewusstseinsentwicklung u.a. an die Lektüre dieses Romans binden.
Boie: Das wäre ein schöner Effekt, oder? Natürlich macht Karins Lektüreerlebnis deutlich, dass durch Literatur Geschichte erfahren werden kann. Aber ich würde lügen, wenn ich dem bewusst einen didaktischen Zweck unterlegt hätte. Es ist vielmehr wie mit der Verbindung zwischen Eichmann-Prozess und Sturmflut: Clara Asscher-Pinkhof hatte die Sternkinder bereits 1946 auf niederlän-disch verfasst, auf deutsch ist der Roman aber erst 1961 erschie-nen. Das Erscheinungsdatum ist für mich ebenso wenig ein Zufall wie die Tatsache, dass der Roman noch im selben Jahr den deut-schen Jugendliteraturpreis gewonnen hat. Dadurch haben die Sternkinder sicherlich vielen Jugendlichen einen Zugang zum Thema Holocaust eröffnet, wie es bei Karin der Fall ist. Ein weite-res Beispiel dafür, wie symptomatisch das Jahr 1961 für den Wan-del in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Deutschland war.